Drucken
Kategorie: Film & Fernsehen

karla2Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 2. Oktober 2025, Teil 8

Holger Twele

Nürnberg (Weltexpresso) - Bekanntlich lässt sich ein Film sowohl rein filmästhetisch beurteilen, wozu die gesamte Palette des filmischen Handwerks gehört, als auch soziologisch und gesellschaftspolitisch betrachten unter Berücksichtigung der filmischen Zeit und der Entstehungszeit. Bei dem Langfilmdebüt „Karla“ der deutsch-griechischen Regisseurin Christina Tournatzẽs ergeben beide Betrachtungsweisen Sinn.


Der so oder so sehenswerte Film ist nach einer wahren Begebenheit entstanden, die sich 1962 in Deutschland zugetragen hat. Die Drehbuchautorin Yvonne Görlach bezieht sich auf die Geschichte eines ihr sehr nahestehenden Familienmitglieds. Damals im Jahr 1962 klagte die zwölfjährige Karla, wie sie im Film heißt, ihren Vater an, gegen ihren Willen bestimmte Handlungen an ihr vorgenommen zu haben, wobei ihr die sprachlich exakten Ausdrücke fehlten und sie keine konkreten Beweise erbringen konnte. Es gelang ihr dennoch, das Vertrauen eines Richters zu finden und das in einer Zeit, in der Kinder gerade über solche Vorwürfe noch schweigen und erst recht nicht gegen die eigenen Eltern vor Gericht ziehen sollten. Richter Lamy nahm sich dennoch der Sache an, schenkte ihr schließlich Glauben, gab ihr eine Stimme und strengte trotz Widerstand aus den eigenen Justizreihen einen Gerichtsprozess gegen den Vater an. Mit einer Stimmgabel kam er auf die Idee, dass Klara das signalisieren sollte, was sie sprachlich noch nicht ausdrücken konnte oder unausgesprochen blieb.

Nach aktuellen Schätzungen ist leider davon auszugehen, dass es heute in jeder Schulklasse durchschnittlich ein oder zwei Kinder gibt, denen Ähnliches wie Karla damals angetan wurde. Vor diesem brisanten Hintergrund wäre es undenkbar gewesen, einen Film zu drehen, der beim Publikum berechtigte Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Mädchens geschürt oder ihre Aussagen als reine Fantasie entwertet hätte. Im Film geht es daher nicht darum, ob Karla die Wahrheit auszudrücken versucht, sondern ausschließlich darum, ob und wie sie den zunächst reserviert und abweisend reagierenden Richter überzeugt, für ihre Rechte einzustehen, und wie er Karla trotz fehlender Beweise vor Gericht Gehör verschaffen kann. Trotz der reduzierten Gerichtsszenen am Ende des Films ist es ein Kammerspiel mit drei Personen: Karla, dem Richter Lamy und seiner einfühlsamen Sekretärin Erika Steinberg. Diese bewusste dramaturgische Konzentration erhöht die Spannung und macht den Film zu einem eindrucksvollen filmischen Erlebnis. Zu verdanken ist das neben der dichten Inszenierung und der subtilen Kameraführung den Leistungen der Darsteller Rainer Bock als Richter, Imogen Kogge als seine Sekretärin und Elise Krieps als Karla in ihrer ersten Kinofilm-Hauptrolle. Sie ist die Tochter der Schauspielerin Vicky Krieps und des Schauspielers Jonas Laux und man wird von ihr sicher noch viel hören und sehen. Auf dem Filmfest München erhielt der Film den Förderpreis Neues Deutsches Kino sowohl für die beste Regie als auch für das beste Drehbuch.

Trotzdem sollten einige „Schwächen“ des Films nicht unter den Tisch fallen. Zu nennen ist insbesondere dessen Geschichtsvergessenheit. Der wahre Gerichtsfall ereignete sich 1962 zu einer Zeit, als Staatsanwalt Fritz Bauer in Frankfurt den Auschwitz-Prozess vorbereitete und mit dieser Aufgabe gezielt nur jüngere Justizbeamte betraute. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die Richter und Justizbeamte wieder in Amt und Würden, die im „Dritten Reich“ Recht und Unrecht gesprochen hatten, wie dem Alter nach auch Richter Lamy. Ein Justizskandal, der heute weitgehend vergessen ist. Im Film ist dagegen nur andeutungsweise und verklausuliert die Rede von den überwundenen schweren Zeiten. An Gewicht gewinnt diese Geschichtsvergessenheit noch vor dem Hintergrund, dass gerade die nationale und internationale ultrarechte Szene sich heute gerne als vermeintliche Kämpfer für den Schutz von Kindern ausgibt.

Etwas zu kurz gekommen sind weiterhin die Nebenfiguren des Films, die arg klischeebeladen eher wie Konstrukte und Kunstfiguren wirken, insbesondere der mehr als unsensibel agierende Verteidiger des Vaters, der zunächst alles leugnet und Klaras Eltern. Der Fehler, dem Vater als Täter mehr Aufmerksamkeit zu schenken, ist zwar vermieden worden. Aber ihn etwas genauer zu charakterisieren, hätte dem Film nicht geschadet.

Bleibt noch die Frage nach dem Bezug zur Gegenwart. Natürlich möchte der Film für das virulente Problem des sexuellen Missbrauchs sensibilisieren und zugleich den Betroffenen Mut machen, wie Klara Zivilcourage zu zeigen und sich selbst zu ermächtigen. Ob das im Nachgang bei den damaligen Opfern noch möglich ist, lässt sich schwer beurteilen. Und bei der jungen Generation fehlt etwas die Brücke zur Gegenwart. Denn diese Generation ist in einer anderen Zeit mit den sozialen Medien aufgewachsen. Karlas Sprachlosigkeit würde sich heute sicher anders darstellen und auch die Verteidigung der Täter und Täterinnen würde sich auf einem ganz anderen Niveau abspielen. So gesehen ist der Film doch eher für ein erwachsenes Publikum, der trotz seiner Geschichtslosigkeit immer noch sehenswert und empfehlenswert bleibt.

Foto:
©Verleih

Info:
Karla
Deutschland 2025, 104 Min.
Stab
Regie Christina Tournatzẽs
Drehbuch: Yvonne GörlachVerleih Eksystent FilmverleihKamera Florian EmmerichProduktion Achtung Panda!

Besetzung
Elise Krieps (Karla),
Rainer Bock (Richter Lamy),
Imogen Kogge (Sekretärin Erika Steinberg) u. a.
Kinostart 2. Oktober 2025
FSK ab 12
Festivals & Preise Beste Regie und bestes Drehbuch, Filmfest München