
Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - Dein Dokumentarfilm WHILE THE GREEN GRASS GROWS (PARTS 1+6) ist Teil eines siebenteiligen filmischen Tagebuchs. Was war die ursprüngliche Idee zu diesem Projekt?
Als ich mit dem Projekt begann, schwebte mir eine Reigenstruktur vor, in der sich jedes Element aus dem vorhergegangenen entwickelt. Und ich dachte, dass die Redewendung „das Gras ist auf der anderen Seite immer grüner“ eine gute Aufforderung sei, Leute über ihre Sehnsüchte zu befragen, und der Wunsch von einem führt mich zum Wunsch des nächsten und immer weiter. Ich glaube, dass man auf diese Weise Wertvolles entdeckt, was man sich im Voraus nicht vorstellen oder recherchieren kann, und daraus entsteht ein Film, welcher sich entfaltende Erlebnisse widerspiegelt.
Ich habe ein paar Jahre lang meine Ideen an diversen Orten gepitcht, aber es ist nichts daraus geworden, weil es schwierig war, ohne ein wirkliches Drehbuch finanzielle Unterstützung zu erhalten. Ich hatte das Glück, privat etwas Geld zu bekommen, und diese Geldübergabe ist tatsächlich eine der ersten Szenen im Film. Es war 2019 und ich dachte, jetzt muss ich anfangen: im Appenzellerland, an diesem Fenster, wo wir jetzt sitzen.Ich fing an, dem Wasser zu folgen, das von den Hügeln ins Rheintal hinunterfließt.
Und wie ging es dann weiter?
Ich folgte dem Weg des geringsten Widerstandes, der mich zunächst zu meinem Nachbarn Gass, einem Tätowiermeister, führte. Er brachte mich zu einem riesigen Höhlenkomplex, danach war ich mit meinem Vater Freddy, und im Laufe der Jahre reiste ich quer durch die USA, weil ich eingeladen wurde, einen meiner Filme in einer Stadt namens „Truth Or Consequences“ zu zeigen, und später ging ich nach Kuba, wo ich eine Gruppe junger FilmemacherInnen einen Monat lang unterrichtete. Das Ganze wurde immer mehr zum Tagebuch. Ich habe meistens allein gearbeitet und manchmal unterwegs Hilfe dazu geholt. Nach meiner Rückkehr aus Kuba ging es los mit Covid. Kurz darauf wurde mein Vater krank, und das wurde zu einem dominanten Teil meiner Filmarbeit. Das Thema „grüneres Gras“ ist nie verschwunden, es zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Erfahrung. Im Jahr 2021 hatte ich meine eigene Begegnung mit der Sterblichkeit, die ich versucht habe mit Humor zu dokumentieren.
Es scheint, dass sich der Schwerpunkt im Laufe des Films von der wörtlichen Bedeutung von „das Gras ist grüner“ – was normalerweise bedeutet, dass man unzufrieden ist oder sich nach etwas anderem sehnt – auf die Bedeutung von „der anderen Seite“ verlagert hat, im Sinne des Lebens nach dem Tod und den Vorstellungen von Natur, Jahreszeiten und Wiedergeburt.
Das ist der Grund, warum ich den Ausdruck liebe – weil er auf so viele Arten interpretiert werden kann. Er spricht etwas Zentrales im menschlichen Dasein an, man könnte es als unseren Wunsch nach etwas Besserem bezeichnen. Wenn man jedoch mit WissenschaftlerInnen spricht, geht es um Forschung und Erkundung. Das ist Teil unserer Evolution. Und Veränderung ist ein wesentlicher Bestandteil des Vorwärtsdrängens. Es geht, wie du sagst, in den Teilen eins und sechs um Sterblichkeit. Der Grund, warum mein Cutter Jordan Kawai und ich diese beiden Teile zusammengefügt haben und sie jetzt gezeigt werden können, ist, dass sie einen bestimmten Erzählfluss beinhalten, der von der Zeit zeugt, die ich mit meinem Vater und meiner Mutter am Ende ihres Lebens verbracht habe, mit Beobachtungen über die Zyklen der Natur und universellen Fragen über ein mögliches Leben nach dem Tod.
Die Teile sind also chronologisch in der Reihenfolge nummeriert, in der du sie gedreht hast, aber sie werden in einer anderen Reihenfolge veröffentlicht?
Nun, das ganze Projekt wurde von der Frage geleitet: „Wie kommen wir weiter voran?“ Wie kann ich mich als Filmemacher auf einen Tanz mit der sich entfaltenden Erfahrung des Lebens einlassen, filmen, während das Leben passiert? Dieser Ansatz hat sich auf die Präsentation der Arbeit selbst ausgeweitet.
Ursprünglich hatten meine Produzentin Cornelia Seitler und ich die Teile eins und sechs ausgewählt, um diese als Work in Progress am Visions du Réel in Nyon zu präsentieren, allerdings in einem Finanzierungskontext. Nachdem die Direktorin des Festivals, Emilie Bujès, die Teile sah, schlug sie vor, diese als Film im Wettbewerb zu zeigen. Also haben wir es gewissermaßen gewagt und die beiden Teile fertiggestellt. Und dann haben wir zu unserer Überraschung den Großen Preis der Jury gewonnen.
Die chronologische Reihenfolge ist essenziell für das ganze Projekt. Beim Schnitt werden die Sequenzen nicht umgestellt. Es gehört zur Logik des Tagebuchs, dass es mein reales Erleben widerspiegelt. Wir Menschen leben nicht in sauberen Erzählabläufen. Wir leben in komplizierten und parallelen Erzählsträngen. Und aus dem, was wie ein Chaos erscheint, erfinden wir Erzählungen, um uns einen Sinn zu geben. Das ist eine Überlebenstaktik. Alles geschieht aus einem bestimmten Grund, und der wird von dem beeinflusst, was zuvor geschehen ist. Ich finde es spannend, dieser Logik zu folgen. Somit möchte ich der Erfahrung keine falsche, intellektualisierte menschliche Erzählung überstülpen. Vielmehr möchte ich die Verbindungen, Assoziationen und Offenbarungen gemeinsam mit dem Publikum beobachten, wobei jeder und jede eine persönliche Erfahrung machen und seine und ihre eigene subjektive Bedeutung herausfinden kann.
Diesen Film anzuschauen ist wie eine Reise, bei der man sich auf Sinnespfade aus Ton und Bild begibt, Menschen trifft, Gedankengänge hört und vielleicht nebenbei noch etwas lernt. Eine Art von Meditation. Idealerweise werden alle Teile in chronologischer Reihenfolge angeschaut – aber wir schneiden die Teile so, dass jede Episode für sich stehen oder aufgrund innerer thematischer Zusammenhänge allenfalls miteinander verbunden werden kann.
Im Film erwähnst du, dass du eine Art Hassliebe zum Filmen spürst. Ich glaube, viele deiner ZuschauerInnen wundern sich, wie du die Art von konzentriertem Fokus und Wahrnehmungssteigerung erschaffst, für die deine Filme bekannt sind. Was passiert für dich, wenn du die Kamera einschaltest und in die Welt hinausgehst?
Das Medium hilft mir, meine körperlichen Sinne zu schärfen, es hilft mir, tiefer zu sehen und die Zusammenhänge der Dinge zu würdigen, deren Schönheit und Kraft. Aber das Paradoxe ist, dass man einen Film zeigt und die Leute auffordert, sich mehr mit der Natur verbunden zu fühlen, aber man tut es durch Technologie, man sitzt in einem dunklen Raum mit projizierten Bildern, und die Erfahrung ist seltsam hirnlastig und spricht die Sinne nicht so an, wie wenn man in der natürlichen Umgebung wäre. Das betrachte ich immer als eine Herausforderung. Andererseits ist es ein erstaunliches Medium, das einen in groß- und andersartige Bereiche der Wahrnehmung und des Verstehens führen kann.
Es gibt einen Moment im Film, in dem du einen Ausschnitt aus dem allerersten Kurzfilm zeigst, den du je gemacht hast, und du sinnierst darüber, dass man wohl immer wieder denselben Film macht.
Ich denke, beim kreativen Prozess greifen wir im Laufe unseres Lebens immer wieder dieselben Ideen auf. Mit jedem Recycling nehmen sie neue Dimensionen an - eigentlich ist es eher eine Spirale. Es ist eine Entwicklung mit sich wiederholenden Zyklen, das Leben ist voll davon. Gelegentlich hört man auf der Tonspur leise Ravels Bolero, der für mich eine Art akustische Demonstration des zyklischen Lebens und Denkens ist. Und es war ein Musikstück, das ich viel zu lange im Kopf hatte.
Mit diesem tagebuchartigen Projekt bist du in gewisser Hinsicht weitergegangen. Du arbeitest mehr mit Off-Kommentar, bist im Film persönlich präsenter, interagierst mit den Leuten. Und Du verwendest auch fremdes Filmmaterial, einschließlich Archivmaterial.
Die Stimme ist nicht nur meine. Es werden immer wieder auch andere Personen zitiert: Thich Nhat Hanh, Kurt Vonnegut, Freunde und Menschen, die ich auf meinem Weg getroffen habe. Meine Absicht war, wie eine Art Medium zu sein, durch welches all diese kulturell geprägten Ideen hindurchfließen. Ideen sind nicht wirklich unsere eigenen – sie werden von uns allen gemeinsam erzeugt. „Picture Of Light“ oder GAMBLING, GODS AND LSD (Verleih: GMfilms) waren eher wie Essays strukturiert mit mir als Autor. Was das Archivmaterial angeht: Ich habe es schon in meinen früheren Filmen verwendet, wie z.B. das NASA-Material in „The End Of Time“. Jetzt verwende ich auch Material aus meinem eigenen Filmarchiv, darunter den Super-8- Film, den ich mit 16 Jahren gemacht habe.
Als ich während des Covid- Lockdowns meinen Keller aufräumte, begann ich, altes Zelluloidmaterial zu sichten. Die Bilder, die ich von meinen Eltern gefunden habe, als sie jünger waren als ich jetzt, oder ein Film über Reinkarnation, den ich in den 1980er Jahren in Indien gedreht habe, ersetzen gewissermaßen mein eigenes physisches Gedächtnis. Und die Bilder des Zweiten Weltkriegs, die wir sehen, wenn mein Vater über seine Kindheitserinnerungen spricht – das sind Bilder aus unserem kollektiven Gedächtnis. So wurde diese Reflexion über aufgezeichnete Filmbilder als Erinnerungsform zu einem Motiv des Projekts. Film ist wie eine Zeitmaschine – etwas, das in der Vergangenheit gemacht wurde, um in der Zukunft betrachtet zu werden. Er nimmt uns mit in die Vergangenheit. Das ist sehr kraftvoll.
Der Ton ist auch ein sehr wichtiger Aspekt deiner Arbeit, einschließlich der Klangcollagen, die aus O-Tönen gemischt mit Musik entstehen. Kannst du uns etwas dazu sagen, wie du die Soundtracks für deine Filme gestaltest?
Der Ton ist suggestiv und bereichert das Bild. Selbst in der Rohschnittphase schneide ich Ton, Bild und Stimme als eine Einheit, weil ich finde, dass sie sich gegenseitig so stark beeinflussen. Für die jetzige Arbeit hat Jordan Kawai meine Herangehensweise übernommen und in einer ersten Rohschnittphase wundervolle Arbeit geleistet, bevor wir gemeinsam am Schnitt weitergearbeitet haben. Es ist ein ständiger Prozess des Gestaltens und Ausgleichens im kompositorischen Sinne.
Du hast auch eine Tanzeinlage im Film, als Hommage an deine Mutter. Das ist ein kleiner quirliger Moment, den ich erwähnenswert finde - denn die Themen des Films klingen sehr ernst, dabei enthält er etliche lustige, charmante und berührende Elemente.
Es ist ein kleiner, leichter Moment, der auftaucht, nachdem wir etwas von ihrer Asche in einen Fluss gestreut haben und ich über die in die Wolken aufsteigenden Wege des Wassers spreche. Es ist eine Erinnerung an den Anfang des Films, wo meine Mutter über ihre Freude spricht, wieder zu tanzen – „irgendwo“. Ich mag Humor und Leichtigkeit, und es ist definitiv ein Balanceakt, wenn man sich mit dem Thema Sterblichkeit beschäftigt. Das war einer der Hauptpunkte, auf die ich geachtet habe, vor allem, als es darum ging, den Tod meines Vaters zu filmen. Aber meine beiden Eltern, Julie und Freddy, sind sehr liebenswert. Im Laufe der Jahre, in denen ich gefilmt habe, haben sie gut gelernt, verspielt aufzutreten.
Trauer und Trost ist ein Thema, das im Film in verschiedenen Zusammenhängen auftaucht. Auch in der Covid-Krise und mit deiner Freundin Alex, die davon spricht, dass das Sterben eine Art Anstrengung ist – analog zu den Geburtswehen. Denkst du, dass du hier an eine Grenze stößt, wenn du das Sterben deines Vaters filmst?
Das war eine der größten Fragen: ob ich Einblicke in diesen intimen Prozess des Sterbens geben sollte oder nicht. Während des Schnitts habe ich einigen Leuten Ausschnitte gezeigt. Gab es hier etwas zu zeigen, das über das Persönliche hinausging? Die Antwort war ein ziemlich eindeutiges „Ja“.
Ich verbrachte, wie ich im Off-Kommentar erzähle, neun Tage mit ihm, las ihm vor, tröstete ihn und war einfach da. Es wurde zu einer tiefgreifenden Erfahrung, wie es dies sicher für viele Menschen ist. Der Film erzählt eine persönliche und gleichzeitig universelle Geschichte. Während der letzten Tage meines Vaters im Krankenhaus sah ich eine hochschwangere Frau, die sich auf die Geburt vorbereitete. In dem Moment wurden für mich Anfang und Ende des Lebens in eine neue Perspektive gerückt. Das hat mich merkwürdigerweise aufgemuntert, weil es den Tod eher zu einer Art Feier machte. Die weitere Arbeit an dem Projekt war Teil eines Trauerprozesses, kombiniert mit einem Bewusstsein dafür, dass ich ein lebender, atmender Organismus bin. Das alles geschah zwischen 2019 und 2021, mein Vater starb in der Mitte dieser Zeit, und meine Mutter starb kurz davor.
Welche Auswirkungen hatte die Pandemie auf das Projekt?
Meine Absicht bei diesem Projekt war es, auf die Dinge zu reagieren, während sie sich ereignen, und dabei zu beobachten und Assoziationen zu wecken. Als dann Covid auftauchte, wurde es zu einem prägenden Teil des Projekts. Ich denke, das Tiefgreifendste – und ich glaube, das war für viele Leute der Fall – war die Wahrnehmung der Natur. Die geringere Anzahl von Autos und Flugzeugen, die Auszeit, die Möglichkeit, im Frühling durch die Wälder zu spazieren, die Knospen zu sehen und sich der Zyklen von Geburt und Tod in den Jahreszeiten und im Wald gewahr zu werden – all das waren Dinge, die ich mitgenommen habe. Bestimmte Gespräche kamen zustande, weil wir draußen spazieren waren und dieses neue, aufgezwungene Bewusstsein unser Leben ein wenig verlangsamte. Ich denke also, dass Covid viele gute Dinge mit sich brachte, auch in Bezug auf das Bewusstsein für die Wechselbeziehungen des Lebens. Das Virus zeigte sich an einem Ort und plötzlich breitete es sich aus. Das ist ein weiterer Beweis dafür, wie alles mit allem zusammenhängt. Das ist auch ein ökologischer Gesichtspunkt, der sehr wichtig ist, aber oft ignoriert wird: Wie wirkt sich eine Sache auf die nächste aus?
Man merkt, dass dich Langsamkeit und Dauer faszinieren. Siehst du dich selbst als Teil der Slow-Cinema-Bewegung?
Langsames Kino kann wie der Schritt über eine Schwelle wirken, der uns in etwas sehr Erhellendes führt – ein neues Gespür für Zeit und Beobachtung. Im Kinosaal lässt man sich nicht so leicht ablenken. Ich möchte das Publikum in eine andere Zeitwahrnehmung überführen, bei der es nicht wirklich weiß, wie viel Zeit vergangen ist, und wo keine konventionelle dramaturgische Struktur vorhanden ist. Aber ich glaube nicht, dass ich in Bezug auf Langsamkeit so extrem bin. Und manchmal ist das Tempo ja auch sehr schnell. Meine Art von Filmemachen ist formal vielfältig und leitet sich von real existierenden Erlebnissen ab. Einige Sequenzen stammen von meinen Live-Performances, die eine besondere Kinosprache bedienen – da mischen sich Bildschichten wie bei einer Collage oder einem Soundmix. Es ist eine andere Art, Informationen zu gestalten und weiterzugeben.
Einige Passagen sind poetisch oder halluzinatorisch, andere im cinéma-verité-Stil gedreht. Es gibt Stellen, an denen ich die Langsamkeit bewusst einsetze, um ein Gefühl der Präsenz zu vermitteln. Ich möchte vor allem dazu anregen, mit Mitgefühl hinzuschauen, zuzuhören und zu erkunden. Die Dinge so zu beobachten, dass die Wechselbeziehungen des Lebens in den Vordergrund rücken, einfach so, wie persönliche Erlebnisse sich entfalten. In diesem Fall: durch mein eigenes Tagebuch der Visionen, Begegnungen und Gedanken.
November 2023
Foto:
©Verleih
Info:
While the Green Grass Grows (Parts 1+6)
Ein Film von Peter Mettler
Schweiz/Kanada 2023
166 min. bei 24 fps
Originalfassung (englisch/Schweizerdeutsch)
mit deutschen Untertiteln
FSK-Freigabe ab 12 Jahren