Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 2. Oktober 2025, Teil 14
Michèle Halberstadt
Paris (Weltexpresso) - Vermutlich begann Ihre Arbeit an diesem Film mit der Lektüre des Romans „Changer le sens des rivières“ von Murielle Magellan?
Die Begegnung mit MarieLine wird ihn erlösen. Ich habe mich also in diesem Thema des sozialen Determinismus wiedererkannt. Ich will stets daran glauben, dass man, wie der Titel des Romans bereits sagt, „die Richtung der Flüsse ändern“ kann. Diese Formulierung von Alain Souchon stammt aus dem Lied „Les yeux d'Ava Gardner“ und entspricht ein wenig auch meiner Erfahrung, denn ich komme aus einem Umfeld, in dem absolut nichts mich dazu prädestinierte, Filme zu machen, und ich mich immer noch darüber wundere, dass ich dem Kino begegnen und Filme machen durfte. Auch das ist der Kern des Films: Es ist eine Lobpreisung der Begegnungen. Eine Geschichte, in der die beiden Charaktere sich durch ihre Begegnung gegenseitig viel geben.
Schreiben Sie eigentlich immer, ohne konkrete Schauspieler im Kopf zu haben?
Ich schreibe immer mehrere Versionen, und ich glaube, nach der vierten kam mir Louane in den Sinn. Ich hatte sie oft im Fernsehen gesehen und kannte ein wenig ihre Geschichte, die sie selbst über sich erzählte: Die ihrer von Hyperaktivität geprägten Jugend, des Verschwindens beider Eltern im Abstand von nur einem Jahr, und zugleich ihrer Lebenslust, die man stets bei ihr spürt. Da gibt es diesen unsichtbaren Stern, der über ihrem Kopf schwebt, diese Freude, dieser Instinkt, der sie vorantreibt. Ich kannte sie überhaupt nicht. Ich hatte sie natürlich in „La Famille Bélier“ (Verstehen Sie die Béliers?, 2014) und auch in ihren folgenden Filmen gesehen, und ich mochte sie sehr als Sängerin. Sobald ich sie im Kopf hatte, half das Marion Michau, der Drehbuchautorin, und mir, ihre Figur zu zeichnen, ein bisschen wie eine „kleine Schwester von Erin Brockovich“. Ich liebe England und diese Art, wie sich manche Mädchen dort kleiden:
Sie sind so angezogen, dass sie nicht merken, dass sie, wenn sie ein Café betreten, von allen angestarrt werden, und die in Wirklichkeit ganz empfindsame Wesen sind. Ich kannte Louane also überhaupt nicht, und wir organisierten ein erstes Treffen in einem ausgezeichneten Fischrestaurant – ohne zu wissen, dass sie absolut keinen Fisch isst ... Ehrlich gesagt, als kinderloser Mensch hätte ich mir eine Tochter gewünscht, die genau wie sie hätte sein müssen. Ich mag ihren Mut und ihre Aufrichtigkeit. Sie ist fair, sie kennt ihren Platz im Leben und passte perfekt auf diese Rolle. Louane ist wirklich großzügig, sie hat mir und dem Projekt viel gegeben.
Die Idee, Michel Blanc zu besetzen, kam demnach erst später?
Ja, als das Drehbuch schon fast fertig geschrieben war. Michel ist selbst Autor, er kann Dialoge schreiben. Das schüchterte mich zunächst etwas ein, aber nachdem er das Drehbuch gelesen hatte, nahm er den Film genau so an, ohne die geringste Änderung zu verlangen. Schon bei der ersten Drehbuchlesung, einige Monate vor den eigentlichen Dreharbeiten, gab es zwischen den beiden sofort diese große „Komplizenschaft“. Diese junge, so spontane Schauspielerin, die auf diesen strengen, erfahrenen Schauspieler trifft: Schon bei ihrer ersten Begegnung sah ich, dass sie ihn berührte. Und sie, die doch ziemlich beeindruckt von ihm war, erkannte schnell, dass sie sich in seiner Gegenwart wohlfühlen und mit ihm scherzen konnte. Das war wirklich schön zu sehen. Und wunderbar zu filmen, weil die Kamera letztlich auch das aufzeichnet, was zwischen den Menschen bereits existiert.
Haben Sie viel an Michel Blancs Look gearbeitet?
Ich mag es, wenn meine Filme wie eine Zeichnung funktionieren: Sie sind realistisch, aber nicht so naturalistisch. Sie sind immer ein wenig stilisiert, oft sehr farbenfroh. Für die Rolle des Richters hatte ich eine Zeichnung von Sempé vor Augen: ein Mann in einem Regenmantel, mit seiner Schultasche, seinem Regenschirm ... genau diese Silhouette. Man erkennt das sehr gut auf dem Kinoplakat. Dieser kleine Mann und dieses Mädchen, größer als er, mit ihrem Minirock, ihren rosafarbenen Haaren, dieses „Proletariat“ nach angelsächsischem Vorbild.
Worin besteht für Sie Schauspielerführung?
Die Grundlage ist doch, dass die Schauspieler spüren, dass ich sie mit Zuneigung filme. Ich habe es genossen, Jacques Dutronc oder Benoît Poelvoorde zu filmen. Auch Depardieu habe ich wirklich gerne gefilmt. Ich habe es genossen, Sandrine Bonnaire, Isabelle Carré, Virginie Efira zu filmen. Zuneigung für die Schauspieler zu empfinden, ist für mich die Grundlage. Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben trotzdem Angst. Das ist völlig normal, denn sie sind es ja, die man auf der Leinwand sehen wird. Sie müssen gleichzeitig spüren, dass man sie liebt, dass man ihnen wirklich helfen will, und gleichzeitig fragen sie sich auch: „Bist Du es wirklich wert, dass ich Dir all das gebe, was ich Dir geben werde?“. Der Schlüssel ist trotzdem das wirkliche Leben, das man einfangen will, und meine Arbeit besteht darin, den Schauspielern zu helfen, loszulassen und nicht im Performativen stecken zu bleiben. Ich sage es immer schon beim Casting: Ich suche nicht die Personen, die am besten spielen können, sondern, diejenigen, die ich gerne filmen möchte und die gerne von mir gefilmt werden möchten. Denn es muss immer in beide Richtungen gehen. Es ist nun mal eine besondere Beziehung und die einzige, die zählt. Ich sage den Schauspielern, die ich ausgewählt habe, immer: „Sie können sich auf mich verlassen.“ Ich bin da, um die Figuren und die Menschen, die sie verkörpern, hervorzuheben. Das muss eine Kraft entfalten, sogar eine Intimität, so dass man spürt, dass es in ihnen pulsiert und dass sich echtes Leben auf die Leinwand überträgt.
Sind Sie sehr akribisch in Ihrer Vorbereitung?
Ja, ich bin viel zu ängstlich, um der Improvisation Raum zu geben. Ich bin nicht in der Lage, an ein Set zu kommen und zu sagen: „Dann lass mal sehen!“. Dafür werde ich bezahlt: Ich bin Regisseur und schlage die Inszenierung vor. Ich sage den Schauspielern „Eure Freiheiten stecken hier drin, aber sie sind begrenzt.“. Ich glaube, dass sich erst in diesem sehr engen Rahmen Freiheit entwickeln kann. Aber damit die Freiheit des Lebens zum Tragen kommt, muss man sie ein wenig suchen können ... Ich versuche, immer motivierend zu sein, ein wenig wie Renoir, der sagte: „Wunderbar, sehr gut, wunderschön, wir machen einfach noch einen!“, anstatt wie Pialat zu sagen: „Das ist lahm, wenn das so weiterläuft, gehe ich nach Hause!“.
Pialat schimpfte, obwohl er seine Schauspieler – bei allem, was er sagte – dennoch stets liebte ...
Mögen Sie es, wenn Ihre Filme in der Realität verankert sind?
Man muss das Gefühl haben, dass die Milieus, die man filmt, tatsächlich so existieren, dass sie nicht falsch klingen. Ich konnte viel Zeit am Gericht von Le Havre verbringen, vielen Vorladungen beiwohnen, und das war spannend. Ich verankere also in der Realität, aber ich bringe auch eine ganz kleine Verschiebung mit ein. Ich gehe dabei nicht ideologisch vor und meine Figuren sind nicht repräsentativ für ihre jeweilige gesellschaftliche Schicht. Ich zeige nur, ich predige nicht. Ich mache Filme, in denen ich weiß, wovon und von wem ich spreche. Ich weiß, was ich erzähle.
Verabscheuen Sie eigentlich Zynismus?
Es stimmt, dass mich Zynismus in Filmen wie auch im wirklichen Leben stört. Außerdem denke ich an den Zuschauer. Das Kino hat mir als Teenager das Leben gerettet. Ich ging manchmal völlig deprimiert in den Kinosaal und kam immer beflügelt wieder heraus. Ich denke also an den Kinozuschauer, betrachte das fast als meine Verantwortung. Bei diesem Film hoffe ich, dass die Zuschauer mit dem Gedanken herauskommen, dass nicht alles von vornherein für uns entschieden ist. Dass man lernen muss, stark zu sein, da man sonst immer zu den Verlierern gehören wird. Wenn man seinen Platz in der Gesellschaft finden will, muss man sich auch mit den nötigen Mitteln ausstatten. Und das ist möglich. Mein Vater war von der Idee besessen, dass alles nur mit Vitamin B funktioniere, dass die Gesellschaft verdorben sei, dass man nur „Sohn von“ sein müsse... Im Film ist Marie-Lines Vater ein bisschen so, er trägt viel Groll und Verbitterung in sich. Resignation ist etwas Schreckliches. Wenn ich manchmal Schulen besuche, sehe ich oft verzweifelte 12-Jährige, die glauben, dass für sie die Würfel bereits gefallen sind. Der andere Aspekt, der mir bei der Handlung des Films gefiel, war dieser „soziale Komplex“. Ich habe mich persönlich nie davon gelöst...
Im Film sehen wir das bei Alexandre, Marie-Lines Freund. Seine Beziehung zur Kultur ist das Gift, das in ihrer Beziehung steckt. Kultur kann ein Vektor der Emanzipation sein, aber auch der Ausgrenzung. Zunächst fühlt Marie-Line sich gedemütigt. Aber sie wird verstehen, dass es vielleicht klüger, strategischer, subversiver ist, sich weiterzubilden.
Der Film sagt auch, dass man einfach gehen muss.
So ist es, man muss wissen, wie man im Leben die Leinen losmacht, toxische Beziehungen kappen. Ihr Freund Alexandre hat alles, aber er bewegt sich nicht. Sie steht zu sich selbst und hat diesen Mut, diese Energie, auszubrechen und weiterzugehen.
Victor Belmondo verkörpert sehr gut die Figur des Freundes, der vom Kino träumt.
Ich wollte ihn nicht zu einer belastenden Figur machen, also war das schon sehr heikel. Victor strahlt etwas sehr Elegantes, Feines aus. Er besitzt echte Anmut, gepaart mit großer Spontaneität. Er ist sehr cinephil im wahren Leben, er hat viel gesehen, aber er nimmt sich nicht so wichtig. Er muss nichts beweisen. Er ist zu jedem Zeitpunkt aufrichtig.
Wie haben Sie die Musik im Film ausgewählt?
Ich habe mit einem Musik-Supervisor zusammengearbeitet, der mir sechzig Stücke vorgespielt hat, ohne mir die Namen der Künstler zu nennen. Ich kam immer wieder zu denselben Stücken desselben Komponisten zurück. Ich mochte seine Stimmungen, seine musikalische Farbe. Er hatte an Kurzfilmen und Serien gearbeitet und dieser Film ist sein erster Spielfilm. Ich hatte auch schon beim Schreiben des Drehbuchs an dieses Lied von Julien Clerc (Les Séparés) über ein Gedicht von Marceline Desbordes-Valmore gedacht, ein sehr schöner Text über die Trauer.
Das passt sehr gut zu den beiden Charakteren, die beide Trauer erfahren haben.
Aber sie lächelt das Leben an – im Gegensatz zu ihm ... Und genau das erzeugt diesen Funken zwischen ihnen. Ein Film ist erst einmal eine Aneinanderreihung von einzelnen Einstellungen, aber jede Geschichte braucht einen Funken. Die Begegnung zwischen diesen beiden Menschen kreiert etwas. Sie haben nichts, das sie gemeinsam sehen oder tun müssten – und doch verbindet sie so viel. Beide „rempeln“ den jeweils anderen an und verändern etwas aneinander.
Welche Phase beim Filmemachen mögen Sie am liebsten?
Ich werde mich immer daran erinnern, dass bei der Vorpremiere von „C'est la vie“ (2001) alle glücklich waren. Ich sagte zu Jacques Dutronc: „Hast du gesehen, der Film hat sie berührt, er gefällt ihnen wirklich!“, und er antwortete mir: „Davon kann man nie genug bekommen.“. Das ist mir im Gedächtnis geblieben, denn es stimmt, dieses Bedürfnis nach Anerkennung kann man nicht stillen. Eigentlich liegt die Freude in der Herstellung an sich: die Vorbereitung, die Drehorte, die Dreharbeiten. Beim Schnitt kehrt die Angst zurück, weil man mit den Schwächen dessen, was man gemacht hat, konfrontiert wird. Daher weiß ich heute, dass meine größte Freude schlicht darin besteht, Filme zu machen.
Foto:
©Verleih
Info:
Film: Wie das Leben manchmal spielt
Besetzung
Louane Emera ............Marie-Line
Michel Blanc...Richter Gilles
Victor Belmondo...... .Alexandre
Philippe Rebbot...... Der Vater von Marie-Line Fiche
Stab
Regie....... Jean-Pierre Améris
Drehbuch und Dialoge............. .Marion Michau, Jean-Pierre Améris
Nach dem Roman...... ..„Changer le sens des rivières“ von Murielle Magellan, ...... erschienen bei Editions Julliard