Drucken
Kategorie: Film & Fernsehen
hysSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 6. November 2025, Teil 11

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Was hat Sie an dieser Geschichte gereizt, und welche Themen wollten Sie ausloten?
Stellen Sie sich vor, Sie verlieren Ihren Schlüssel und erhalten einen Anruf von jemandem, der behauptet, er habe Ihre Schlüssel gefunden. Überglücklich teilen Sie Ihre Adresse mit, und warten sehnsüchtig darauf, dass der Fremde die Schlüssel zurückbringt... aber er taucht nicht auf. Jetzt ist jemand da draußen im Besitz Ihres Schlüssels, weiß, wo Sie wohnen, und könnte jeden Moment in Ihr Haus eindringen. Genau dieses Gefühl, diese Verwundbarkeit war die Initialzündung für HYSTERIA.


Es geht also um den Fremden?

Ja. Es geht darum, wie die Idee des Fremden oder des Anderen unsere Wahrnehmung trübt und unsere Interaktionen behindern kann, da Bilder mehr Macht ausüben als die abgebildeten Personen. Ich erinnere mich an meine Schulzeit, als ich der einzige Ausländer in meiner Klasse war: Es gab eine Initiative, bei der wir wöchentlich Zeitschriften erhielten. Aufgeregt ging ich nach Hause, las sie und stieß auf einen Artikel über junge kriminelle türkische Migranten. Das war in einer ähnlichen Phase wie heute, in der kriminelle Migranten das beherrschende Thema waren. Die Art und Weise, wie der Artikel die jungen „Mehmets“ darstellte, hätte nicht weiter von meiner, der Realität meiner Familie und meines Viertels entfernt sein können. Mit jeder Zeile wuchs mein Gefühl der Ohnmacht, meine Aufregung und meine Nervosität.

Ich wusste, dass alle in der Klasse diese Zeitschrift lasen, und ich wusste, dass das Bild des „Mehmets“ viel größer sein würde als der echte Mehmet in der Klasse. 

Also ist es auch eine persönliche Geschichte?

Auf jeden Fall. HYSTERIA ist die Fortsetzung meiner Diskussion über die Darstellung in den Medien, insbesondere in politisch und emotional aufgeladenen Diskursräumen, wie wir sie derzeit erleben. In meinem Debütfilm Oray habe ich versucht, mein Recht auf eine eigene, subjektive Perspektive auf das muslimische Leben in Deutschland abseits der üblichen Bilderwelten durchzusetzen. HYSTERIA handelt von der Verantwortung und den Herausforderungen bei der Produktion von Bildern der „Anderen“ unter den bestehenden gesellschaftlichen Klassenverhältnissen und Machtstrukturen – sowohl von denen, die die Bilder schaffen, als auch von denen, die zu Bildern werden – und davon, wie Bilder uns als Gesellschaft beeinflussen, so sehr, dass wir nicht mehr miteinander kommunizieren können und uns kaum noch als Menschen begegnen.


Der Akt der Verbrennung eines heiligen Textes ist provokant. Wofür steht er in der Erzählung?

Es dreht sich nicht um den reinen Akt der Verbrennung, der offensichtlich ein Unfall ist. Im Film erfahren wir auch, wie ein muslimischer Gelehrter sagt; dass das Verbrennen des Korans kein absolutes Verbot ist, es geht um die Absicht und die Interpretation: Genau das setzt der verbrannte Koran in Gang – als erzählerischer Auslöser und Explosion, die von jedem anders interpretiert wird.


Was setzt es in Bewegung?

Der Punkt ist, dass ein und dasselbe Symbol für Menschen, die auf ganz unterschiedliche Weise sozialisiert sind, etwas völlig Widersprüchliches darstellen kann.

Für jeden symbolisiert der verbrannte Koran etwas Einzigartiges, beladen mit eigenen kulturellen Codes, historischen Kontexten, persönlichen Traumata, Mythen, Familiengeschichten, Wünschen und Ängsten.

Es geht um Symbole, und das Verbrennen eines Korans ist ein Symbol. Für manche ist der verbrannte Koran ein Zeichen westlicher Arroganz gegenüber anderen Kulturen, eine Fortsetzung der kolonialen Haltung, für Hass auf oder Kritik am Islam. 8 Aber dahinter steckt mehr als die postkoloniale und rassistische Lesart, denn das Verbrennen eines Korans ist auch ein Symbol für die Meinungsfreiheit. Historisch gesehen hat der Westen jahrhundertelang für die Meinungsfreiheit gekämpft und einen tief verwurzelten Glauben an die absolute, fast heilige Freiheit der Rede entwickelt, was mit dem religiösen Glauben kollidiert, dass der Koran das Wort Gottes ist und über allem steht.

Plötzlich kollidieren zwei Weltanschauungen, zwei Überzeugungen, die sich im Laufe von Jahrtausenden in Teilen der Welt unterschiedlich entwickelt haben, sodass es zum Knall, zur Explosion, zum Inferno kommt.


Elif, die Protagonistin, befindet sich in einem Spannungsfeld. Was symbolisiert ihre innere Reise?

Elif hat die persönliche Geschichte einer „Strebermigrantin“, die versucht durch Fleiß und Gehorsam von der Welt ihrer Herkunft in die Welt des Erfolgs zu gelangen und die sich, obwohl sie sich in beiden Welten zurechtfindet, in keiner zu Hause fühlt. Sie verleugnet ihre Herkunft und strebt nach oben; ein Ziel, das sie aufgrund ihres weißen Aussehens leicht erreicht. In ihrem Kampf mit ihren Widersprüchen hat sie sich fur eine ̈ Seite entschieden und die andere unterdrückt. Das spiegelt sich auch in ihren negativen, rassistischen Erfahrungen aus ihrer Schulzeit und ihre Assoziation des „Verlierens“ mit ihrem Vater und seiner Kultur. Auch als sie trotzig die Seiten wechselt, gelingt es ihr nicht, ein Gleichgewicht, einen Frieden zu finden. Wie könnte sie das auch in einer Welt, die so tief gespalten ist?


Wie hat sich Ihre Herangehensweise an das Filmemachen entwickelt, und wo sehen Sie diesen Film innerhalb der deutschen Kinolandschaft?

Im Gegensatz zu Oray wollte ich dieses Mal einen Genrefilm machen, in dem eine moralische Frage wie ein Krimi konstruiert ist. Trotz des theoretischen Rahmens, der auf der Orientalismus-Theorie fußt, wollte ich einen spannenden Thriller mit psychologisch komplexen Figuren erzählen. Die Fragen, wer das Recht hat, bestimmte Rollen im Film zu spielen, oder ob Gewalt das einzige Mittel zur Ermächtigung der Abgebildeten ist, sollen bei den Zuschauerinnen und Zuschauern nachwirken.

Das Publikum soll beim Betrachten des Films von der emotionalen, die Urängste aktivierenden, Intensität der zwischenmenschlichen Verstrickungen und einer spannenden Film- und Bildsprache mitgerissen werden.

Ähnlich wie bei Kriminal- oder Horrorfilmen ist die zentrale Frage: Wer ist der Täter? Das Publikum muss durch das Wirrwarr von Menschen, Sprachen und Beziehungen navigieren und sich fragen, ob überhaupt ein Urteil über die Schuldfrage gefällt werden kann.

Der Film fügt sich für mich in die Landschaft des deutschen Kinos als einer der vielen aktuellen Filme, die nicht sagen: „Ich erkläre euch mal meine Kultur“, sondern sich selbstbewusst und kritisch mit diesen komplexen Themen auseinandersetzt.


Was bedeutet Devrim Lingnaus Auszeichnung als European Shooting Star 2025 für Sie als Regisseur, und wie reflektiert das die Bedeutung ihrer Rolle in diesem Film?

Ich bin sehr stolz auf sie, und niemand verdient diese Auszeichnung mehr als sie. Sie hat eine unglaubliche Hingabe, Selbstdisziplin und den Mut zu ihrer eigenen Wahrheit – dass das gesehen und gewürdigt wird, macht mich froh. Ein Teil ihrer Selbsterkundung zu sein, macht mich glücklich.


Foto:
©Verleih

Info:
Besetzung

DEVRIM LINGNAU     Elif
MEHDI MESKAR.      Said
SERKAN KAYA          Yigit
NICOLETTE KREBITZ.    Lilith
AZIZ ÇAPKURT              Mustafa
NAZMI KIRIK                  Majid
Stab
Regie & Drehbuch. MEHMET AKIF BÜYÜKATALAY

Abdruck aus dem Presseheft