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Kategorie: Film & Fernsehen
sorrySerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. Dezember 2025, Teil 4

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Victor (die die Pronomen they/she verwendet) hätte nie gedacht, einmal selbst einen Film zu schreiben, zu inszenieren und darin mitzuspielen. Die Reise begann während der frühen Pandemiezeit. Eingeschlossen in Lockdowns entwickelte Victor eine alles verzehrende Filmsucht – ein belebender Eskapismus. Sie absolvierte eine autodidaktische und umfangreiche Filmausbildung, verschlang Klassiker ebenso wie Arthouse-Perlen.


Kurz darauf begann Victor, ein Drehbuch zu schreiben. Eine Geschichte, die lange in ihr schlummerte, drängte an die Oberfläche – über eine junge Akademikerin, die nach einem 
sexuellen Übergriff mit Galgenhumor und Unterstützung einer Freundin den Weg zu sich selbst zurückfindet. „Ich schrieb den Film, den ich damals gebraucht hätte, als ich selbst eine ähnliche Krise wie Agnes durchlebte“, sagt Victor. „Es ging mir weniger darum, Gewalt oder den Übergriff selbst zu erzählen, als vielmehr darum, wie ein Mensch heilt. Besonders interessierte mich das Gefühl des Feststeckens – wenn man sieht, wie alle anderen weiterziehen, während man selbst noch in dem festsitzt, was einem passiert ist. Ich schrieb das ursprünglich für mein früheres Ich.“

 

Der Weg zur Regie

Zurückgezogen in einer Hütte in Maine schrieb Victor ein erstes Drehbuch, das nahezu unverändert blieb. Mit feinem Gespür für Zeit und Ort war das Skript einzigartig durch die emotionale Bandbreite von Agnes’ Erfahrungen – mehr als durch die Ereignisse selbst. Es stellt große Fragen: Was verändert sich in uns, wenn sich schlechte Erinnerungen im Körper einnisten?

Warum trauern wir um das Selbst, das wir hätten werden können? Wie geht man weiter, wenn der Weg ein anderer ist als der erträumte?

Indem Victor eine Figur in den Mittelpunkt stellt, die feststeckt, hinterfragt sie unsere Wahrnehmung von Zeit – wie Minuten, Stunden und Jahre im Krisenzustand aus dem Takt geraten und wie Fortschritt ein nicht-linearer Prozess ist. Der Film ist in fünf zeitspringende Kapitel unterteilt – je eines für jedes nachhallende Jahr – und erlaubt dem Publikum, Agnes auf ihrem Weg vom Verlust zu neuer Offenheit ganz nah zu folgen.

Körper, Humor und Chaos

Victor wollte sich auch dem Leben im eigenen Körper widmen – den erschreckenden Schwächen wie auch den befreienden Ekstasen. Auch wenn Agnes’ Trauerwellen aus Schock, Panik und Herzschmerz dominieren, ist Humor ein zentrales Element: Agnes ist selbst im Chaos witzig. Doch Victor nutzt den Humor klug, um zu zeigen, wie er zugleich Schutz und Spiegel emotionalen Chaos sein kann.

„Die komischen Momente untergraben nie Agnes’ Erfahrung oder Trauma“, betont Victor. „Der Humor richtet sich immer gegen die Mächtigen – jene, die Agnes verletzen – oder zeigt die Absurdität dessen, was sie durchmacht.“

Zugleich bleibt Agnes’ beste Freundin Lydie eine konstante Kraft: Sie ist da, als alles zusammenbricht, und bleibt präsent, auch als sie heiratet und ein Kind bekommt. „Ich wollte eine Liebesgeschichte über Freundschaft erzählen – wie stark es ist, jemanden einfach zu begleiten und zuzuhören,wenn sie das Schlimmste durchleben.“ Keine Opferrolle Victor verweigert sich der klassischen Opfererzählung: „Der Film ist keine Tragödie, weil Lydie Agnes zuhört. Ich glaube nicht, dass Agnes überhaupt erkannt hätte, was ihr passiert ist, wenn Lydie nicht bei ihr gewesen wäre.“ Die Liebe zwischen beiden ist nicht symmetrisch – auch das ist eine Stärke, sagt Victor. Lydie versteht, dass Agnes sich zurückziehen muss, um zu überleben, aber sie selbst lebt weiter.

Zentrale Szene des Films bleibt ausgespart: Der Moment des Übergriffs wird nicht gezeigt. Stattdessen entfernt sich die Kamera. Agnes erzählt ihn später – ein Akt großer Tapferkeit.


Unterstützung durch Berry Jenkins

Nach Fertigstellung schickte Victor das Drehbuch an Barry Jenkins, der sie bereits durch ihre Comedy-Videos kannte. Jenkins, Romanski und Ceryak wollten nicht nur den Film machen –sie wollten, dass Victor Regie führt. Anfangs lehnte sie ab. Doch sie begann, Moodboards und Lookbooks zu erstellen – daraus wurde Leidenschaft. Pastel organisierte ein individuelles Bootcamp: Tutorials, Lektüren, Setbesuche. Besonders lehrreich war das Shadowing bei Jane Schoenbrun („I Saw the TV Glow“). „Ich lernte, wie sich ein Set für eine Regisseur*in anfühlt – und wann man für seine Vision kämpfen muss.“

Schauspiel, Besetzung und Vertrauen

Neben der Regie spielte Victor auch selbst Agnes – vorbereitet durch monatelanges Coaching mit Rebecca Dealy. Als Lydie glänzt Naomi Ackie, die britische BAFTA-Gewinnerin, voller Energie und Loyalität. Victor beschreibt sie als „romantische Hauptrolle“ des Films – und die Chemie stimmte sofort.

Lucas Hedges („Manchester by the Sea“) spielt Gavin, Agnes’ spätere Liebe. Victor war entschlossen, ihn zu gewinnen – und schrieb ihm einen Brief. „Ich war überrascht, als er zusagte. Er war so sorgfältig und einfühlsam.“

Auch Szenen körperlicher Intimität wurden mit größter Sorgfalt gedreht – inklusive Intimitätskoordination. „Es ging mir darum, dass sich alle sicher fühlen. Die Geschichte entstand aus einer Zeit, in der ich mich sehr unsicher fühlte.“

Als „böser“ Professor Decker beeindruckt Louis Cancelmi („Killers of the Flower Moon“) – glaubwürdig und verstörend. „Er bringt Komplexität und Menschlichkeit – man versteht, warum Agnes ihn bewundert.“

Hoffnung in kleinen Momenten

Eine unerwartete Szene der Heilung: Agnes trifft nach einem Panikanfall auf einen freundlichen Fremden, gespielt von John Carroll Lynch („Fargo“). „Ich glaube an die Freundlichkeit Fremder. Wenn jemand, der dir nichts schuldet, dir hilft, fühlt sich das heilend an.“

Atmosphäre und Stil

Gedreht wurde in Massachusetts mit einer größtenteils weiblichen Crew unter Kamerafrau Mia Cioffi Henry. Der Stil: natürlich, winterlich, psychologisch dicht. Fenster und Türen ziehen sich als Motiv durch den Film – als Portale zur inner en Welt von Agnes.

Foto:
©Verleih


Info:
Produktion: A24
Regie und Drehbuch: Eva Victor
Cast: Eva Victor, Naomi Ackie, Louis Cancelmi
Länge: 104 Minuten