Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 25. Dezember 2025, Teil 11Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - Wie würden Sie die Weltpremiere des Films in Cannes beschreiben? Es war eine sehr intensive Erfahrung. Erst später konnte ich wirklich verarbeiten, was da passiert war, und dachte nur: „Wow, das ist schon unfassbar für einen ersten Film.“ Ich stand vor diesem großen Publikum, hatte keine Rede vorbereitet und hätte mir niemals vorstellen können, diesen Preis als beste Darstellerin in Cannes zu erhalten. Aber diese Erfahrung war sehr schön und wird mich mein Leben lang begleiten. Außerdem hat mich auch Hafsia Herzi immer begleitet. Sie ist eine wunderbare Regisseurin, dabei sehr großzügig und sie erweitert einem den Denkhorizont. Hafsia Herzi sieht etwas in dir, auf das du selbst nie gekommen wärst.
Welches Verhältnis hatten Sie zum Kino, bevor Sie diesen ersten Film gedreht haben?
Ich hatte kein besonderes Verhältnis zum Kino und es hat mich auch nicht sonderlich interessiert. Mein Interesse galt dem Sport und der Schule. Aber seit Cannes versuche ich meinen Rückstand aufzuholen und interessiere mich sehr viel stärker für das Kino. Ich habe sehr schöne Filme entdeckt. Beispielsweise kannte ich Alain Delon überhaupt nicht und habe kürzlich DER EISKALTE ENGEL (von Jean-Pierre Melville) entdeckt. Diese Kälte, seine Ruhe, sein Schweigen erinnerten mich ein wenig an Fatima, die auch nicht viel redet. Sie verinnerlicht sehr viel, muss diesen inneren Kampf mit sich selbst ausfechten und kann ihre Gefühle nicht offen zeigen.
Wie kamen Sie dann zum Casting, wenn Kino und Filme in ihrem Leben bis dahin keine große Rolle spielten?
Das war purer Zufall, auch wenn man immer sagt, es gäbe keine Zufälle. Ich war unterwegs und dann tippte mir jemand auf die Schulter. Ich hielt sie zunächst für eine Touristin, aber es war Audrey Gini, die Casting Direktorin, die mir erzählte, sie suche eine junge Frau mit maghrebinischen Wurzeln und es könne für mich vielleicht interessant sein, ein Casting zu machen. Ich dachte mir: „Warum nicht?“ und fand es ganz witzig. Ich habe dem Ganzen keine große Bedeutung beigemessen. Aber dann rief man mich für ein Casting an. Da saßen unglaublich viele Menschen und ich dachte, es würde mir wohl kaum gelingen, da herauszustechen, zumal ich ja über keinerlei Schauspielerfahrung verfügte. Aber ich war neugierig und wollte kämpfen, wie auf einem Fußballfeld und auch Tore schießen. Also habe ich meine Chance ergriffen und am Ende hat es geklappt. Eigentlich hätte ich mir nicht vorstellen können, so weit zu kommen.
Wie würden Sie Fatima beschreiben?
Sie ist eine kämpferische Frau, permanent auf der Suche nach Antworten, weil sie einen ständigen, inneren Kampf führt. Das erstreckt sich über die gesamte Filmdauer: wenn sie sich Liebhaberinnen sucht und dann wieder nach Hause zurückkehrt. Sie führt einen Kampf mit sich selbst und verschließt sich. Sie will in dieser schönen Familie, in der es viel Freude und Liebe gibt, nichts kaputt machen. Sie traut sich aber nicht, gewisse Dinge anzusprechen. Es ist nicht leicht für sie in dieser nicht ungewöhnlichen, aber komplexen Situation, weil viel auf ihr lastet. Vor allem wenn es um die Liebe geht, eigentlich die schönste Sache der Welt, dann schmerzt es, wenn man sie nicht ausleben darf. Sie möchte sich emanzipieren, ihren eigenen Weg gehen, sich nicht den Vorschriften anpassen. Daher sucht sie den Imam auf, der ihr sagt, es gibt keine andere Liebe als die zwischen Mann und Frau. Diese Worte verletzen sie, weil sie wirklich nach einem Ausweg sucht. Sie will sich nicht zwischen Religion und Liebe entscheiden und geht dann ihren Weg. Es ist wichtig, zu unterstreichen, wie sehr sie ihre Religion liebt.
Gibt es bei Fatima Charaktereigenschaften, die Ihren ähneln?
In der Szene als bei Ji-Na Depressionen ausbrechen, habe ich mich Fatima sehr nahe gefühlt, weil sie so empathisch ist. Ich kann auch einfach nur zuhören und urteile nicht, und kann keine Menschen hassen, denen es schlecht geht. Sie zeigt ihr Mitgefühl der Frau gegenüber, die sie verlassen will. Ji-Na ist die Einzige, die Fatima wirklich liebt, all ihre amourösen Eroberungen danach macht sie nur, weil sie Liebeskummer hat. Aber ich finde es sehr stark, wie empathisch Fatima in diesem heftigen Moment reagiert, als sie verlassen wird. Das ähnelt mir.
Was war für Sie schwieriger zu spielen: die Szene des Gewaltausbruchs in der Schule oder eher die Liebesszenen?
Die schwierigste Szene für mich war die mit der Mutter am Ende des Films, der Mama, die ihr sagt, sie sei immer für sie da, auch wenn sie irgendwann fort ist. Es war für mich emotional so schwer zu verkraften, weil ich da völlig in der Figur aufging. Da habe ich auch bemerkt, dass man im Beruf der Schauspielerin auch eine gewisse Distanz zu seiner Figur aufbauen muss und sich nicht nur seinen Emotionen hingeben darf. Diese Szene bringt mich auch jedes Mal wieder zum Weinen, wenn sich sie sehe. Man muss sich da einfach seinen Gefühlen hingeben, wenn man diese Mama sieht, die ihre Tochter so liebt.
Wie hat Hafsia Herzi das Ensemble als Regisseurin geführt, vor allem in diesen sehr schönen Szenen mit Ji-Min Park?
Zunächst haben wir Schauspielerinnen viel geprobt und weil es viele intime Szenen gab, schlug man uns einen Intimitätscoach vor. Das habe ich jedoch abgelehnt, weil ich die Notwendigkeit dafür nicht sah. Hafsia Herzi kann einfach gut zuhören und ist einfühlsam, wohlwollend und strahlt viel positive Energie aus. Unter uns Schauspielerinnen haben wir schon vor den Dreharbeiten viel miteinander gesprochen, während und außerhalb der Proben. Wir gingen einfach ins Café um die Ecke, um uns besser kennen zu lernen.
Es handelt sich bei dem Film auch um die freie Adaption eines Romans. Kannten Sie das Buch?
Ich kannte das Buch nicht, bevor ich die Casting Direktorin traf. Sie gab es mir dann zur Vorbereitung und meinte, es wäre gut, wenn ich es für die Entwicklung der Figur lesen würde. Da ich ja kein Drehbuch hatte, las ich es und fand es sehr stark. Ich mag den Stil. Jedes Kapitel beginnt mit dem Satz: „Ich bin Fatima, eine junge Frau mit algerischen Wurzeln und ich bin lesbisch.“ Sie schreibt auch über Gott und ich fragte mich beim Lesen, warum eine Frau vor sich selbst so oft wiederholen muss, wer sie ist. Man sieht es auch im Film. Manchmal sieht man diese Reflexionen an den Fenstern, wie eine Art Spiegeleffekt von „Wer bin ich, wer bin ich wirklich?“ Fatima sucht ihren Platz, wo sie sein müsste, und das hat mich wirklich sehr berührt, diese Figur, die so von sich losgelöst ist und sich doch näherkommt.
Haben Sie nach dem Preis in Cannes als beste Darstellerin bereits weitere Rollenangebote erhalten?
Ja, durchaus, da gibt es bereits einige Angebote für andere Projekte. Aber ich möchte nichts überstürzen, weil ich ja noch mein Leben als Studentin habe und mein Privatleben geht vor. Aber es gibt Projekte und ich hoffe, mich auf einer großen Leinwand wiederzufinden und verschiedene Figuren zu verkörpern, die schöne Geschichten erzählen, die berühren und den Zuschauern und Zuschauerinnen starke Emotionen bieten.
Gab es bei den bisherigen Aufführungen Publikumsreaktionen, die Sie besonders berührt haben?
Es gab vor allem viel Dankbarkeit für die Repräsentation einer solchen Person auf der großen Kinoleinwand. Leute waren dankbar dafür, dass man ihnen mit dem Film eine Stimme gibt und, dass sie der Film wirklich berührt hat. Einige kamen nach der Vorpremiere auf mich zu und teilten ihr Geschichten mit Sätzen wie: „Ich komme aus einer Familie wie Fatima, ich musste so viele Jahre warten, bevor ich es meinen Eltern sagen konnte.“ Ich fand es sehr beruhigend zu sehen, dass es genug Menschen gibt, die das Thema verstehen. Selbst für völlig unwissende Menschen, die nichts über die queere Community wissen, kann der Film dazu führen, dass ihnen nach dem Verlassen des Kinos die Augen geöffnet werden. Es kann zu Denkanstößen und zu sehr interessanten Diskussionen führen. So lernt man sich besser gegenseitig zu akzeptieren, denn es ist alles andere als selbstverständlich. Unser Film kann zu mehr Toleranz führen.
Foto:
©Verlag
Info:
Besetzung
Fatima Nadia Melliti
Ji-Na Ji-Min Park
Kamar Amina Ben Mohamed
Nour Melissa Guers
Dounia Rita Benmannana
Ahmed Razzak Ridha
Benjamin Louis Memmi
Tarik Waniss Chaouki
Nacer Anouar Kardellas
Stab
Drehbuch und Regie Hafsia Herzi
Abdruck aus dem Presseheft