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Kategorie: Film & Fernsehen

Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10. November 2016, Teil 10

Corinna Belz

Paris (Weltexpresso) - Lange bevor ich daran dachte, Filme zu machen, wollte ich lesen. Ich las schon, bevor ich lesen konnte. Ich schaute mir Buchrücken an, ihre Farben und Titel, und  folgte  den  Buchstaben  in  der  schönen  Regelmäßigkeit  ihrer  abstrakten  Ordnung. 

Und  was  erst  für  eine  großartige  Entdeckung,  als  ich  mit  Anfang zwanzig auf einen Schriftsteller namens Peter Handke stieß, der das Licht zwischen  den  Stengeln  eines  abgeernteten  Feldes  in  seinen  Sätzen  aufscheinen lassen kann, dass man sich die Augen reibt, der das Eis in zwischenmenschlichen Beziehungen genau darstellt, die Gefährdung des Ichs, und der die Welt durch seine Sprache erwärmt wie kaum ein anderer mit  einer  nicht  endenden  Aufmerksamkeit  und  Geduld  widmet  sich  dieser ungeduldige Mann seit mehr als fünf Jahrzehnten dem Schreiben. Dabei fällt ihm das Sprechen nicht leicht, zu kostbar und gleichzeitig ungesichert ist das Terrain.

Nicht verwunderlich also, dass auch meine Fragen auf die Goldwaage gelegt wurden. Versuch, Widerspruch, neue Versuche.


Es folgten lange Gespräche und die Entdeckung einer Unmenge von Fotos, die Peter Handke in den Siebzigern mit seiner Polaroidkamera gemacht hat, sowie
des  großartigen  Kosmos  seiner  Notizbücher.  Mich  faszinierte  die  Gewissheit, mit der der junge Autor vom Land in den frühen Sechzigern, die Srachlosigkeit hinter sich ließ, das Wort ergriff und sich in die Mitte der literarischen Welt einschrieb.


Der Film spannt einen großen Bogen vom Portrait des Dichters als junger Mann, der mit einer wilden, provokativen Bestimmtheit seine Aufgabe in der Gesellschaft definierte, und dem Leben des Schriftstellers heute in einer Pariser Vorstadt: das Haus, die kleinen Dinge, Fundstücke und Rituale, stofflich, analog.


Hier  öffnet  sich  eine  ganze  Welt:  Handschrift,  Sprache,  Leben  in  der  Familie und ohne Familie, die Toten und die Lebenden. Der Film erzählt von einer großen Scheu, von ihrer Überwindung, von der Liebe zur Literatur und der immer akuten Frage, die uns die Dichter seit Tausenden von Jahren stellen: Wie wollen wir leben?

 


ZUM FILM


Viele seiner Buchtitel klingen wie die Titel einer Jukebox und wurden zu Losungen mehrerer Generationen von Lesern: „Publikumsbeschimpfung“, „Die Angst
des Tormanns beim Elfmeter“, „Wunschloses Unglück“,  „Der kurze Brief zum langen Abschied“, „Das Gewicht der Welt“, „Immer noch Sturm“. In den Sechzigern zeigte Peter Handke als einer der ersten, wie das geht: der Schriftsteller als angry young man und Popstar des Literaturbetriebs, kompromisslos in seiner  Sprache  und  der  Vielfalt  seines  Schreibens,  Prosa,  Theater,  Drehbücher, Gedichte, Essays, Übersetzungen. Kaum war er auf den Bestsellerlisten, kehrte er dem Rummel den Rücken. Er ging auf Reisen, und immer nahm er seine Leser mit in den Rhythmus seiner Sprache, in seine langen, schwingenden Sätze.


Seit vielen Jahren lebt und arbeitet Peter Handke in seinem Haus in einer Pariser Vorstadt, ein stiller, gastlicher, von Leben und Schreiben, Sprachlichem und
Nicht-Sprachlichem  aufgeladener  Ort  –  „eine  Rettung“,  wie  Handke  einmal sagt. Hier beginnt der Film von Corinna Belz, von hier aus bricht er auf zu sei-
nen mal hoch konzentrierten, mal fast beiläufigen, immer aufmerksamen Erkundungen und Begegnungen, hierher kehren wir ein ums andere Mal zurück. Peter Handkes genauer, freier Blick wird spürbar in seinen Texten, den Gesprächen,  dem  Kosmos  seiner  Notizbücher,  den  zahlreichen  bisher  unveröffentlichten Polaroids.


Nach ihrem vielfach preisgekrönten Kinoerfolg GERHARD RICHTER PAINTING (u.a. Deutscher Filmpreis – Bester Dokumentarfilm) hat Corinna Belz erneut ei-
nen unwiderstehlichen, klugen, im besten Sinn begeisternden Film geschaffen, der  überraschende  Einblicke  in  das  Denken,  die  Arbeit  und  das  Leben  des  Schriftstellers  Peter  Handkes  eröffnet.  Ein  Film  über  das  Schreiben,  über  die  Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihre Verwandlung in Kunst, über die Kunst des Erfindens – und nicht zuletzt über die großen, unverzichtbaren Fragen, die uns Peter Handke eindringlich und zuweilen unerwartet liebevoll stellt: „Was ist jetzt? Wie soll man leben?“

 

Foto: aus dem (c) Filmheft

Info: Abdruck aus dem Filmheft