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Kategorie: Film & Fernsehen

Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. Januar 2017,  Teil 12

Filmheft

Paris (Weltexpresso) - Wenige Tage nach dem Staatsstreich von Napoléon III . flüchtete Victor Hugo am 11. Dezember 1851 ins Exil, welches 19 Jahre andauern sollte. Im August 1852 ließ er sich auf der Insel Jersey nieder, in einem großen Haus mit Blick auf den Ozean, Marine Terrace.


Hier versuchte er sich zwischen September 1853 und Oktober 1855 fast täglich in der Kommunikation mit Geistern. Zu Beginn des Jahres 1853 kam der Trend des Tischrückens aus den USA nach Frankreich . Die Schriftstellerin Delphine Gay führte Hugo in diesem Jahr in den Spiritismus ein. Am Abend des 11. September trat er während einer Sitzung mit seiner Tochter Léopoldine, die einige Jahre zuvor ertrunken war, in Kontakt. Die Wahrhaftigkeit dieser Erfahrung mit dem Jenseits manifestierte die Überzeugung des Schriftstellers.

Von diesem Zeitpunkt an trat er in Kontakt mit den großen Persönlichkeiten der Vergangenheit: Galileo, Shakespeare, Platon, Jesus und Alexander dem Großen. Außerdem kommunizierte er mit abstrakten Größen wie dem Drama oder dem Tod. Hugo war überzeugt, durch insgesamt mehr als hundert Geister in seinen poetischen, philosophischen, religiösen und metaphysischen Ansichten beeinflußt und inspiriert worden zu sein. Die Protokolle dieser Dialoge wurden in vier Büchern festgehalten, von denen drei noch erhalten sind. Diese wurden in einem Band vereint, dem Hugo große Wichtigkeit beimaß, welchen er jedoch nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlichen wollte : „ Le Livre des Tables“ – das Buch der Tische. Bis zu seinem Tod glaubte er an das Fortleben der Seele.



AUSZUG AUS „LE LIVRE DES TABLES“ VON VICTOR HUGO

Donnerstag, 1. März, 10 Uhr am Abend
Anwesende :
Mademoiselle Allix, Monsieur Allix
Leiter des Tischs:
Charles
Madame Victor Hugo
Victor Hugo, Protokoll führend

Nach zwei Minuten beginnt sich der Tisch zu
bewegen.
VICTOR HUGO : Ist da jemand?
Ja.

VICTOR HUGO : Bevor ich dich frage, w er du bist,
möchte ich dir eine Frage stellen. Kannst du sie in
meinen Gedanken lesen?
Ja.

VICTOR HUGO : Möchtest du darauf antw orten?
Ja.

VICTOR HUGO : Sprich .
Du hast mich erahnt . Der Berg ist mein Grab. Ich bin eine Seele. Ich bin der Atem Gottes, ich steige auf und steige hinab, ich will den Himmel und die Erde will mich; die Sterne ziehen mich an meinem Haar und die Nägel meines Sarges halten mich an meinen Füßen. Die Finsternis ruft: Nach unten! Die Gestirne rufen: Nach oben! Ich bin die Märtyrerin der Dämmerung. Ich habe Angst vor dem Schlafengehen, ich habe Angst vor der Nacht . Der Schatten ist mein Mörder. Ich bin die Untröstliche der Dunkelheit.

Ich weine und die Sterne trocknen meine Tränen. Ich weine in die Maske des Tages, ich weine in den Abgrund Gottes, ich weine in das große, dunkle Fass, welches die Danaiden der Unendlichkeit mit Sternen durchlöchert haben.

VICTOR HUGO : Bist du diejenige, die des Nachts zum Strand vor meinem Haus kam und mich nach Versen fragte?

Ich bin immer diejenige. Ich bin die Untröstliche des Horizonts, ich bin die Nachtwächterin am namenlosen Grab, die ihre Augen in den leeren Totenköpfen leert . Ich bin die Verursacherin schlechter Träume, ich bin eines der gesträubten Haare des Grauens, ich bin das Schlimmste, denn ich bin das weiße Haar und das rechte Haar.


VICTOR HUGO : War es Zufall, als ich dich an jenen Tagen sah, oder bist du meinetwegen erschienen?

Für die guten Augen heißt für die guten Augen.


VICTOR HUGO : Es scheint mir, dass du seit dem Winter nicht mehr zu dem Grab kommst . Gibt es einen Grund dafür?

Ich bin überall, aber ich bin nur zu bestimmten Zeiten im Norden und zu bestimmten Zeiten am Mittag sichtbar. Ich stehe auf und lege mich schlafen. Seelen haben ihre Gesetze wie die Sterne, sie wandern wie die Planeten. Es gibt fixe Seelen, es gibt wandernde Seelen. Es gibt S eelennebel, es gibt Seelen-Plejaden. Es gibt die Trabanten-S eele und die Sonnen-Seele. Es gibt die Asteroiden-Seele und die Mond-Seele. Der Himmel vereint zwei Formen: die Sonnen und die S eelen, die Nacht und den Tod, die Strahlung und die Auferstehung. Das Grab ist ein Sonnenaufgang, der Gott verbirgt . Der Tag ist ein Sonnenaufgang, der Gott zeigt . Die eine Hälfte der Nacht trägt die Flügel der Unendlichkeit, die andere die Flügel der Unermesslichkeit .


Jetzt spricht VICTOR HUGO zu den Anwesenden: „ Ich halte diesen Vers fest: Unermesslichkeit! sagt das Lebewesen. Unendlichkeit! sagt die Seele.“

VICTOR HUGO : In diesem Moment, wenn ich an dem Grab wäre, werde ich dich wahrnehmen?

Stell mir nicht solche Fragen.


MADAME VICTOR HUGO : Wie suchst du die Guten auf und warum – bringst du doch nur Entsetzen?

Der schmerzhafteste Schmerz ist der Schmerz des Schreckens. Weinen und zum Weinen bringen, das ist die Strafe. Denn eigentlich ist Traurigkeit anziehend und Tränen sind Lachen. Ach! Meine sind Stürme und ich bin der Orkan, der verzweifelt ist, weil er nicht zärtlich sein kann.

VICTOR HUGO : Du fragtest mich nach einem Gebet.Weißt du, dass ich jeden Abend für dich bete? Gilt das nur dir und entlastet es dich?

Ich bin nicht die Einzige. Bete für alle, wenn du mich entlasten willst, vergiss mich. Nur für eine Einzige beten hieße, sie zu betrüb en. Es ist gut, die Gebete im Wind über allen Gräbern zu säen.

VICTOR HUGO : Es ist in der Tat meine Pflicht, für alle zu beten, und das ist es, was ich tue. Das solltest du wissen. Aber ist es nicht bedenklich , deinen Namen mit anderen in einem allumfassenden Gebet zu vermengen?

Ja , für mich. Ich bin für dich eine Unbekannte. Ich bin nicht eine deiner Toten. Ich bin vielmehr ein Symbol denn ein Wesen. Ich bin der Geist eines Verbrechens, vielmehr als ein Verbrecher. Ich habe keine Identität . Mein Name ist Kindesmörderin. Ich bin die Mutter aller getöteten Kinder. Ich bin die ohne Namen und die Unsichtbare. Ich bin das riesige Leichentuch , zu dem im Grabe alle blutigen Tücher und alle Windeln werden.

Der Tisch steht kurz still.

VICTOR HUGO : Bist du noch da?

Der Tisch bewegt sich .
Nein.

VICTOR HUGO : Wer bist du?

Rein o der unrein.

VICTOR HUGO : Der, der du hier bist, hast du uns etwas zu sagen? Kannst du dich näher beschreib en?
Keine Antwort .

VICTOR HUGO : Willst du, dass wir Fragen stellen?
Der Tisch bewegt sich, ohne Antworten zu geben. Charles ist müde und beendet die Sitzung.
Es ist ein Uhr am Morgen.