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Kategorie: Film & Fernsehen

67. BERLINALE vom 9. bis 19. Februar 2017, WETTBEWERB, Teil 17

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Wieder erleben wir in diesem portugiesischen Film eine BLEIERNE ZEIT, aber wenn der Anfang des Films noch das dahinplätschernde Schicksal dieser Kleinfamilie genauso, wie wir es erwarten, schildert, so werden wir im Folgenden damit überrascht, wie diese Familie aus ihrem eigenen Leben fällt und nichts mehr ist, wie es war.


Hintergrund, das merken wir gleich, ist die Arbeitslosigkeit des Vaters. Er tigert herum, er wartet auf seine Frau, glaubt, daß diese nicht mehr wiederkommt, was die Tochter, die andere Dinge im Kopf hat, einfach nicht verstehen kann. Als die Mutter dann spät kommt, regt sie das auf, welche Sorgen ihr Mann sich macht. Sie spricht von einem zweiten Job am Abend, den sie bekommen hat. Das beruhigt so richtig niemanden, aber immerhin scheint das Leben weiterzugehen.

Die Tochter ist eine typische Pubertierende. Sie ist schon 17 Jahre, aber zwischen Schule, Elternhaus und ihrem Freund ist sie orientierungslos. Der einzige, für den sie sich total verantwortlich fühlt, das ist der kleine Vogel, den sie immer wieder aus dem Käfig holt, woran wir ihre Sehnsucht nach Zärtlichkeit erkennen, aber auch ihre Unfähigkeit, auf die Probleme der anderen einzugehen. Wenn dann, was man ahnen konnte, am Ende der Vogel tatsächlich gestorben ist, ist es auch mit der Familie am Ende. Im Gegensatz zum Vogel, dem das Mädchen liebevoll einen Sarg bastelt und der vom Vater beerdigt wird, hat die Familie keine Heimat mehr.

Als erstes wird wegen Geldmangel der Strom abgestellt. Kerzen helfen. Die Handys werden beim Nachbarn aufgeladen. Aber als nächstes ist klar, die Wohnung ist nicht zu halten. Aber – das merken wir auch – alle diese Entscheidungen werden nicht gemeinsam gefällt, sondern sind Urteilssprüche der alleinverdienenden Mutter, die eben trotz ihrer anderslautenden Erklärungen und auch trotz des eigentlich lieben Verhaltens zum Ehemann und der Tochter, anderes im Sinne hat. Da gibt es einen Mann im Hintergrund, vermuten wir, sehen auch einen. Aber das ist wohl ein Irrweg, denn das Problem dieses Film ist es, daß die lange "funktionierende" Mutter von der Regisseurin irgendwie vergessen wurde. Wir erfahren wenig über sie und wie ihr zu Mute ist. Das ist die entscheidende Fehlstelle im Film, der einseitig Empathie nur für den arbeitslosen Vater und die trotzige Tochter hat. Sehr seltsam für eine weibliche Regie, finden wir.

Währenddessen werden der Vater und die Tochter filmisch ständig begleitet. Der Vater, der hilflos in seiner Situation verharrt, dauernd wegen Bewerbungsgesprächen anruft, wird plötzlich zum Entführer seines im Auto sitzenden ehemaligen Schulkameraden, von dem er eine Stelle erhoffte und an den er telefonisch nie herankam. Tatsächlich zieht der Vater ein Messer, also fährt dieser los ans gewünschte Ziel, den Strand von damals, wo der Schulfreund das, was er im Portemonnaie hat, hergibt und losfahren will. Als er losfahren will, stürmt der Vater hinterher, wird aber von dem Fahrer, der sich endlich wehrt, zusammengeschlagen.

Am ausführlichsten wird das Leben der Tochter erzählt. Sowohl die Probleme mit dem Freund, wie ihre Schule und ihre abendlichen Unternehmungen, wo wir auch ihre Freundinnen erleben, von denen die eine im Film dann eine besondere Rolle spielt. Sie ist schwanger, will das Kind behalten, ihr ist dauernd schlecht, und mit ihr ist die Tochter jetzt unterwegs. Nachts sind sie am Fluß unterwegs, treffen auf einen Aalfänger, der die Tiere zum Trocknen ausweidet. Der wundert sich wohl gar nicht über diese beiden Mädchen. Angst haben die sowieso nie. Denn hierhin sind sie gekommen, weil der letzte Bus schon gefahren war. Ab irgendwann weiß der Zuschauer nicht mehr so genau, ob Tag oder Nacht, was mit der Schule war etc. Aber das ist nicht schlimm, denn das Eigentliche haben wir längst verstanden.

Darum muß man auch die Details nicht weitererzählen. Die Familie löst sich auf. Die Mutter hat entschieden, die Wohnung wird aufgegeben, Vater und Tochter ziehen zur Mutter der Mutter. Sie selber kommt bei einer Freundin unter.

Dann aber passiert sehr viel gleichzeitig.  Die Tochter hat die schwangere Freundin mit nach Hause gebracht. Noch funktionierte ja die Kleinfamilie und liebevoll wird die Freundin aufgenommen. Als diese des Nachts aufwacht, schleicht sie sich aus dem Zimmer, steigt auf das Dach des Hochhauses, zerreißt die Absperrbänder, breitet die Arme aus und die Situation schreit danach, daß sie nun in die Tiefe stürzt. Da taucht der Vater auf, den wir als einzigen bisher schon auf dem Dach gesehen hatten. Er spricht sanft mit der schwangeren Freundin, sagt, ich komme und hole Dich, dann wird die Spannung gesteigert, ob sie springt oder nicht, aber längst hat das junge Mädchen Vertrauen gefaßt, läßt sich vom Vater ins Bett bringen, der ihr dann noch sagt, sie solle das Kind bekommen, er werde für alles – auch rechtlich – geradestehen.

Bei der Großmutter angekommen, wird die Freundin für die Tochter gehalten, aber die Tochter selbst kommt bei dem Aalverwerter unter, wenigstens kurzfristig.

Daß dies eine Anklage an die prekäre soziale Situation in Portugal und anderswo sein soll, wo Arbeitslosigkeit Familien zerstört, wird klar, aber die filmischen Mittel gehen in eine andere Richtung, die das Verständnis für die Situation eher erschwert.



Aus der Pressekonferenz

Colo auf Portugiesisch hat viele Bedeutungen. Die Sprachkundigen fragen sich, was denn der Titel bedeuten soll. Zum Beispiel Schoß. Wenn ein Baby auf dem Schoß sitzt, aber auch wenn man jemanden in den Arm nimmt. Es bedeutet Unterstützung, erklärt die Regisseurin.

Foto: © berlinale.de


Info:
Teresa Villaverde
Portugal / Frankreich 2017
Portugiesisch
136 Min · Farb
mit João Pedro Vaz, Alice Albergaria Borges, Beatriz Batarda, Clara Jost, Tomás Gomes