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Kategorie: Film & Fernsehen

Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 2. März, Teil 6

Raoul Peck

Paris (Weltexpresso) - Als die Welt sich wiederholt im Ausnahmezustand der Finanzkrise befindet, erlebt Karl Marx ein unerwartetes wie neu erwachtes Interesse. In den letzten Jahren war er auf den Titelblättern der großen Magazine der Welt zu sehen: Time, Newsweek, Forbes, Financial Times, Der Spiegel. 2014 verkauft ein französischer Ökonom, Thomas Piketty, 450.000 Exemplare seiner neu aufgelegten Analyse der Thesen von Karl Marx („Der Kapitalismus im 21. Jahrhundert“).



Und die Journalisten und Ökonomen irren sich nicht. Während wir das Jubiläum des Mauerfalls feiern, ist es jetzt möglich, zu dem zurückzukehren, was Karl Marx an wissenschaftlicher Arbeit geleistet hat, ohne deshalb Schuldgefühle zu entwickeln wegen der Auswirkungen in der ganzen Welt, die von Doktrinen verursacht wurden, die sich zu Unrecht auf seine Lehre beriefen.

Karl Marx hat für mich bereits früh eine Rolle gespielt – in der Arbeit, in meinem Engagement und generell in meinem Leben. Ich war schon immer misstrauisch gegenüber allem Dogma gewesen, damit auch gegenüber dem Wesen des Marxismus als solches. Aber ich hatte das Glück, seinem Werk zuerst in akademischen Zusammenhängen zu begegnen – und das in einer Zeit, die weniger von Polemik geprägt war als heute.

In Berlin (West) habe ich, wie viele meiner deutschen und ausländischen Kommilitonen, sehr bald Vorlesungen über das „Kapital“ besucht. In einigen Fakultäten der Freien Universität von Berlin gehörte der Stoff quasi zum Pflichtprogramm. Man kam aber sowieso nicht darum herum, wenn man in einem maßgeblich vom Einfluss eines Marcuse, Adorno, Habermas, Horkheimer oder anderen Mitgliedern der Frankfurter Schule geprägten Umfeld auf fundierte und „wissenschaftliche“ Weise mitdiskutieren wollte – in einer Stadt der Debatten und der Revolte wie Berlin.

Ausgehend von der mir eigenen, durch meine Biografie bedingten Perspektive begann ich zusammen mit meinem Komplizen und Koautoren Pascal Bonitzer (der wahrscheinlich einer der kompetentesten europäischen Drehbuchautoren ist) mir den „jungen Karl Marx“ vorzunehmen und die Entstehung dieses monumentalen Werkes aufzuspüren, von dem Raymond Aron sehr richtig gesagt hat: eine Qualität des Werkes von Marx liegt darin, dass man es in fünf Minuten erklären kann oder in fünf Stunden, fünf Jahren oder auch über ein halbes Jahrhundert hin. Es ist tatsächlich möglich, eine vereinfachte halbstündige Zusammenfassung davon zu geben, was eventuell jemanden, der nichts über die Geschichte des Marxismus weiß, dazu befähigt, einem Anderen mit Ironie zuzuhören, der sich sein Leben lang damit beschäftigt hat.

Der Film wollte in seiner Inszenierung modern und fließend sein. Er begleitet Marx und Engels in ihrer Jugend, er zeichnet ihre unerschütterliche Freundschaft nach und zeigt, wie ein einzigartiges Trio durch die Entbehrungen entsteht, die sie in ihrer turbulenten Jugend erlebt haben. Es ist ein Film, der die Atmosphäre der fiebrigen Zeit der Industrialisierung als Realität enstehen lässt und dabei den Betrachter in das Europa der 1840er Jahre zu tauchen vermag: Fabriken der Schwerindustrie in England, das extreme Elend und der Schmutz der Straßen von Manchester und im Kontrast die goldene Wärme der Pariser Paläste, die Energie einer Jugend, die die Welt verändern will und dabei die törichten Schwellen der Ungleichheiten wiederherstellen wird.

Wir wollten so nah wie nur möglich an einer realen Geschichte lebendiger Figuren und im Zeitgeist ihrer Epoche bleiben. Deshalb haben wir vor allem auf direkte Quellen aus der Zeit, insbesondere auf die Briefe, Bezug genommen und nicht auf die Interpretationen verschiedener späterer Chronisten, die sich oft gegenseitig kopiert und dabei hin und wieder geirrt haben. Den „bärtigen Alten“, der auf seinem Dogma festsitzt, haben wir dabei hinter uns lassen wollen. Zu Gunsten der Wagnisse eines fulminanten Trios (Karl und Jenny Marx und Friedrich Engels), die in einem angespannten Europa unter der Fuchtel der Zensur am Vorabend der Volksrevolution mit dem Verfassen des „Kommunistischen Manifest“ – dieser analytischen und radikalen Auflistung der Fehlentwicklungen und der Mechanismen des Kapitalismus – kulminieren und dabei den Höhepunkt des Films bestimmen.

Denn der alte Bart verdeckt nicht nur das Gesicht von Marx. Im Jahr 2017 verdunkelt er die Möglichkeit einer bedachten Reflexion und Auseinandersetzung und verhindert dabei den tatsächlichen Beitrag dieses wissenschaftlichen und politischen Denkers zu entdecken, seine außergewöhnliche Kraft der Analyse, seine humanistischen Bestrebungen, seine berechtigten Sorgen über, zum Beispiel die Verteilung des Wohlstands, die Kinderarbeit, die Gleichstellung der Geschlechter, die Ausdehnung der Märkte, die Globalisierung, usw. – Themen von höchster Aktualität, in Europa und anderswo.

Jeder ist frei, die Geschichte, die auf jene Episode folgte, für sich zu beurteilen. Aber sie beginnt schon lange vor den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, als Karl Marx und Friedrich Engels begannen, die Welt zu verändern. Und hier setzt der Film an: bei der Jugend und bei der Revolution des Denkens.

Foto: (c) cineeuropa.org