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Kategorie: Kulturbetrieb
Memelland Maza Lietuva Sign KleinBildungsradreise durch das Memelland als »bewegendes« Geschichtsseminar

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Nasse Klamotten, quietschende Fahrradketten – aber strahlende Gesichter. Die 18-köpfige Gruppe, die in diesen Tagen in der litauischen Hafenstadt Memel/Klaipėda zu einer außergewöhnlichen Bildungsradreise aufbrach, bekam einige Wetterkapriolen geboten. Regen peitschte drei Tage lang über den Pulk, Gegenwind forderte viel Puste, doch zwischendurch blinzelte auch die Sonne durch die Wolken. »Während die Ketten rosteten, glänzten unsere Gespräche«, sagt Markus Nowak vom Deutschen Kulturforum östliches Europa aus Potsdam und schmunzelt.

»Was da stattfand, war kein gewöhnliches Geschichtsseminar – sondern eine bewegende Reise durch Vergangenheit und Gegenwart, durch Dörfer, Grenzverläufe und geteilte Erinnerungen«, ergänzt Vincent Regente von der Deutschen Gesellschaft e. V. aus Berlin.

Die beiden Historiker und Radsportler haben das Format der Bildungsradreise durch das Memelland gemeinsam entwickelt. Unterstützt werden sie vor Ort von einem litauischen Partner, Dominykas Chlebinskas. Das Ziel: Geschichte erlebbar machen – jenseits von Klassenzimmern und Konferenzsälen. Statt Frontalunterricht hieß es: Strampeln, schwitzen, stehen bleiben. Und dabei geschichtliche Fragen stellen und sie beantworten. Denn es wurde nicht nur Rad gefahren – bis zu 80 Kilometer am Tag, fast 500 insgesamt –, sondern auch gedacht, diskutiert und präsentiert. Die Teilnehmenden – 15 Studierende und junge Berufstätige aus Deutschland und Litauen – hatten selbst Kurzvorträge vorbereitet. Etwa zur Geschichte des Memellandes, zum jüdischen Leben und der Shoa in Litauen oder aber zum einstigen und heutigen Grenzregime im Nordosten Europas: »Grenzen und Begegnungen« war die Fahrt übertitelt.

»Wir sind am Ufer der Memel, litauisch Nemunas, also entlang der heutigen litauisch-russischen Grenze gefahren – und dann weiter nördlich entlang jener alten deutsch-russländischen Grenze, die im 19. und 20. Jahrhundert Europa prägte«, erklärt Nowak. »Man spürte unterwegs, wie sich Landschaft und Vergangenes durchdringen. Geschichte begegnet einem hier nicht nur im Museum, sondern am Straßenrand, auf Friedhöfen, in verlassenen Kirchen – und manchmal mitten im Gespräch«, erklärt Regente. Zum Beispiel mit dem Bürgermeister von Georgenburg/Jurbarkas, Skirmantas Mockevičius, der über Litauens erstes lokales Holocaustmahnmal sprach, oder mit Mitgliedern der deutschen Minderheit in Memel und Heydekrug/Šilutė.

Im letzteren Ort kam es zu einem Zeitzeugengespräch mit einem »echten« Memelländer, der von Krieg, Flucht, Enteignung und Neubeginn erzählte. »Seine Erinnerungen haben mir und meiner Schülergeneration mehr über Europa beigebracht als manches Schulbuch«, sagt Peter Schmidt, 38, Lehrer aus Rheinland-Pfalz. »Ich fahre nicht nur mit vielen neuen Eindrücken zurück, sondern auch mit frischem Material für meinen Unterricht – und mit der Frage, was uns heute in Europa eigentlich verbindet.« Auch Miglė Kalinauskaitė, die mit 29 Jahren derzeit ihre Facharztausbildung in Wlna/Vilnius macht, zeigte sich beeindruckt: »Die Begegnungen haben mein Geschichtsverständnis bereichert. Es war erstaunlich zu sehen, wie berührt manche von den Geschichten und Orten waren. Das zeigt, wie empathisch und interessiert viele junge Menschen heute an europäischer Geschichte sind.«

Doch nicht nur Gespräche und Gedenkorte hinterließen Eindruck – auch die eigene Ausdauer wurde auf die Probe gestellt. Drei Tage Regen, matschige Wege, Gegenwind. »Ich habe durch diese Art des Reisens mit dem Fahrrad viel Selbstvertrauen gewonnen«, sagt die 27-jährige Studentin Barbora Sharrock. »Früher dachte ich, 15 Kilometer seien weit – heute erscheinen sie mir wie ein Wimpernschlag, egal bei welchem Wetter.«  Was ursprünglich als einmaliges Projekt begann, wurde zu einer kleinen »Trilogie des Memellandes«. Nach den Touren von Wilna nach Memel (2023) und von Kaunas entlang der Memel zur Ostseeküste (2024) schloss sich in diesem Jahr der Kreis mit einer Rundreise durch das Memelland. »Wir haben ganz bewusst Regionen gewählt, in denen sich europäische Geschichte in all ihrer Ambivalenz verdichtet«, sagt Regente. »Orte, an denen Zugehörigkeiten, Identitäten und Grenzen immer wieder neu verhandelt wurden.«

Nowak ergänzt: »Unsere Bildungsradreisen wollen keine nostalgischen Heimatfahrten sein, sondern offene Lernräume – für Perspektivwechsel, Neugier und ehrliches Interesse an Geschichte.« Dabei sei das Fahrrad weit mehr als nur ein Fortbewegungsmittel. »Es zwingt uns, die Landschaft zu lesen – mit Zeit, mit Begegnung, mit Aufmerksamkeit. Und es ist ökologisch.« Gerade mit Blick auf die aktuelle sicherheitspolitische Lage gewinne das historische Wissen über die Region zusätzlich an Bedeutung, glauben beide. »Wenn heute deutsche Soldaten in Litauen stationiert sind, ist es umso wichtiger zu verstehen, in welchem kulturellen und historischen Kontext sie sich bewegen«, sagt Regente.

Die Bildungsradreise fand vom 26. Juli bis 3. August 2025 statt. Gefördert wurde das Kooperationsprojekt der Deutschen Gesellschaft e. V. und des Deutschen Kulturforums östliches Europa vom Bundesministerium des Innern auf Beschluss des Deutschen Bundestages. Und auch wenn die Kleidung vieler Teilnehmender nach acht Tagen nach Wechsel riefen – die Geschichten, Eindrücke und neu geknüpften Freundschaften werden bleiben.

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©Veranstalter