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Kategorie: Kulturbetrieb

Lyrik-Abend in Rüsselsheim

Bruno Alberti

Weltexpresso (Rüsselsheim)  - Eine verblüffende Idee, eine lohnende Idee! Warum nicht einmal Gedichte hören und auf sich wirken lassen! Gedichte von ganz unterschiedlichen Autorinnen und Autoren, Gedichte zu ansprechenden Themenbereichen!


Der Rüsselsheimer Kunstverein hat eine solche Veranstaltung organisiert, und zwar in den Räumlichkeiten des Rüsselsheimer Industriemuseums in der Festungsanlage, einer Räumlichkeit, die sich für so einen Lyrik-Abend durchaus eignet.

Der Vorsitzende des Kunstvereins, Karl-Heinz Becker, stellt vorab den Lyrik-Abend in einen Zusammenhang mit den sonstigen Veranstaltungen des Kunstvereins: Ausstellungen von Künstlern und Lesungen diverser Autorinnen und Autoren. Becker kündigt den Referenten  des Abends, Thomas Adamczak, als Literaturliebhaber an, der nach einem vom Publikum positiv aufgenommenen Kafka-Abend im Jahre 2015 zum zweiten Mal im Kunstverein einen Vortrag hält, mit dem er das an Literatur interessierte Publikum in Rüsselsheim ansprechen möchte.

Karl-Heinz Becker verweist in seiner knappen Ansprache auf die Besonderheit des Abends. Der in Rüsselsheim und über Rüsselsheim Grenzen hinaus bekannte Künstler Bengt Fosshag hat sich durch Gedichte des Abends zu am Abend ausgestellten  Illustrationen inspirieren lassen, die eindrucksvoll demonstrieren, dass bestimmte Verse in Gedichten innere Bilder auslösen, von denen sich Künstler zu Gestaltungsversuchen anregen lassen können. Bengt Fosshag hat die drei präsentierten Bilder  »Abschied«, »Blick« und »Herbst« genannt.
Als vom Künstler signierte Drucke können diese Illustrationen käuflich erworben werden.

Nun zum Verlauf des Lyrikabends: »der Frühling lügt/wenn er grün/über die Wiesen/flunkert/wenn er windig/vom April/faselt/dann lügt er/der Frühling«, »es ist der Herbst/der rote Tod/der im Essigbaum hockt/der Herbst ist es/der die Wahrheit sagt« (A. Andersch). Mit diesem Gedicht zum Thema Herbst beginnt der Referent den Vortrag. Er liest dieses Gedicht zweimal, was er als Hommage an Hilde Domin versteht, die bei  Lesungen ihre Gedichte auch immer zweimal las. Im Verlauf des Abends wird deutlich, dass sich das Publikum gut an dieses zweimalige Lesen gewöhnt. Bei einigen Gedichten bitten Zuhörerinnen sogar darum, dass ein bestimmtes Gedicht noch einmal gelesen wird.

Das zweimalige Hören erleichtert es, den Wechsel zwischen ganz verschiedenen Gedichten zu verkraften, und es ermöglicht, dass sich die Zuhörenden intensiver auf Gehalt und Gestalt des jeweiligen Gedichts ein- und eigene Ideen zulassen.

Nach fünf Gedichten zum Thema Herbst, unter anderen Gedichte von Heinz Erhardt und Hilde Domin, die in »Es knospt« darauf verweist, dass wir es Herbst nennen, wenn »es knospt/ unter den Blättern«, präsentiert der Referent mehrere Gedichte, die die außerordentliche Bedeutung der Leserinnen und Leser von Gedichten thematisieren. So fordert Octavio Paz, der mexikanische Literaturnobelpreisträger, gar die »Abschaffung des Dichters, der es schreibt,/  und die Geburt des Dichters, der es liest«. Vasco Popa (Lyriker aus dem Banat) ermutigt den Lesenden, in Gedichte wie in einen Apfel zu beißen: »Beißt hinein, und ihr werdet sehen,/ was er bedeutet.« Die Bedeutung des Apfels erschließe sich  erst wirklich, wenn man in ihn hineinbeiße. Genau so verhalte es sich auch beim Lesen von Gedichten.

Hilde Domin fordert in ihrem Gedicht »Drei Arten Gedichte aufzuschreiben« ein Gedicht, »das schreit/sowie einer vorübergeht/schreit in schwarzen Buchstaben/das etwas Unmögliches verlangt/Zivilcourage zum Beispiel/diesen Mut den kein Tier hat/ Mit-Schmerz zum Beispiel/Solidarität statt Herde/ Fremd-Worte/heimisch zu machen im Tun«.

Das Publikum reagiert wohlwollend und teilweise durchaus amüsiert, zum Beispiel bei einem Herbstgedicht Heinz Erhardts und bei Ernst Jandls »Sommerlied« (»wir sind die menschen auf den wiesen/bald sind wir menschen unter den wiesen/und werden wiesen und werden wald/das wird ein heiterer Landaufenthalt«). Gedichte, betont Thomas Adamczak in einer seiner Anmerkungen, die er zwischen die einzelnen Themenblöcke des Abends einschiebt, enthalten eine Antwort, doch eine Antwort setze eine Frage voraus. Die Fragen müssten wir als  Leserinnen/Leser stellen.

Nach mehreren Gedichten zum Thema »Lebensalter«, unter anderem mit dem unnachahmlichen Robert Gernhardt-Gedicht »Ein Gast« (»Das Alter klopft ein meine Tür:/ „Du bist da drin, ich spüre dir.“/ Ich mache nicht auf und flüsterte schwach:/ „Lernt du zuerst mal deutsche Sprach.“/ Worauf der Gast zu gehen geruht./ - Ey, Alter! Das ging noch mal gut.«), werden abschließend im weitesten Sinne politische Gedichte vorgetragen.

Darunter hinterlassen die Gedichte »Idomeni“ (Thomas Gsella) und »Leben! Einzeln und frei wie ein Baum/und brüderlich wie ein Wald/ ist unsere Sehnsucht« (Nazim Hikmet) besonderen Eindruck beim Publikum, das mit freundlichem Applaus dem Referenten für den gelungenen Abend dankt, nachdem der zum Abschluss Rainer Malkowskis  »Einladung ins Freie« vorgetragen hat. Dieses Gedicht endet folgendermaßen: »Für einen Nachmittag will ich glauben,/  dass das Schöne/ ein Spaß ist -/und überhaupt alles so leicht/ wie man Kirschen pflückt.«

Die Leichtigkeit des Kirschenpflückens als Sinnbild für ein Lebensprinzip, mit dem auf gegenwärtige politische Problemlagen reagiert werden sollte? Wohl eine unrealistische, wenn nicht utopische  Hoffnung. Als das Publikum zu verstehen gibt, dass ihm im Anschluss an den Vortrag an einer Diskussion wenig gelegen ist, beendet der Referent den Abend mit zwei weiteren Gedichten, die er, so sagt er, als Geschenk für den Heimweg mitgeben möchte: »Der geschenkte Tag« (Benno Pludra) und »Soisses« (Robert Gernhardt).

Gut gepasst hätte zu diesem Lyrik-Abend der Imperativ von Peter Härtling »Lest Leute, lest!«, vielleicht ergänzt um den Zusatz »Lest Leute, lest ab und zu Gedichte!«.

 

Foto: Wir haben leider nicht die im Text angeführten Bilder des Künstlers zur Verfügung, aber fanden dieses von ihm  (c) Rüsselsheimer Kunstverein

Info:
http://www.kunstvereinruesselsheim.de/index.html