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Kategorie: Lust und Leben
co 2Theologische Impulse (174)

Thorsten Latzel

Rheinland (Weltexpresso) - Lassen Sie uns mit einer kleinen, anonymen Umfrage beginnen. Es reicht, wenn Sie sich innerlich melden. Sind Sie in moralischer Hinsicht überdurchschnittlich? Wir sind unter uns: also keine falsche Bescheidenheit. Ich vermute, das Ergebnis wird ähnlich sein wie in vergleichbaren Studien mit verschiedensten Personengruppen. Die Quote tendiert über 90 Prozent. Wir gehören zu den Besseren. Allesamt. „Moral overconfidence“ heißt das Phänomen.

Neulich etwa: Da habe ich die halbe Welt gerettet. Bei einem einzigen Einkauf. Ich habe Bäume gepflanzt, Delfine gerettet, soziale Projekte gefördert, Flüsse vor Plastik bewahrt. Nachweislich auf allen Packungen. Das war gut! Ich sollte noch viel mehr einkaufen. Zum Ausgleich habe ich etwas Erholung verdient. Vielleicht ein Flug auf die Malediven. Natürlich mit CO2-Kompensation. Um nicht missverstanden zu werden: Wir haben Probleme. Echte, ernste Probleme: Artensterben, Klimawandel, Extremismus, Armut, Ausbeutung, Kriege. Und: Wir leben zugleich in einem moralisch aufgeladenen Zeitalter.

Der Philosoph Philipp Hübl beschreibt in seinem provokant formulierten Buch „Moralspektakel“, „wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht“ (so der Untertitel).

Moral, so seine These, ist ebenso wie Besitz, Bildung, Aussehen und Ansehen Teil unseres Statusspiels. Durch die sozialen Medien sind wir alle öffentliche Personen geworden. Nicht auf einem demokratischen Markplatz, sondern in einer Profilierungs-Arena. Und wir sind darauf angewiesen, Reputationsmanagement zu betreiben. „Merken die anderen, dass ich das Richtige tue und auf der richtigen Seite stehe?“

Beliebt sind dabei billige Signale, die mich nicht viel kosten, anderen aber klar meine Gruppenzugehörigkeit und integre Haltung signalisieren. O-Ton Hübl: „Alle großen Ideen ereignen sich zweimal, das eine Mal als Theorie und das andere Mal als Hashtag.“ Zugleich achten wir sorgsam darauf, wie sich die anderen verhalten. Weil es – mit Odo Marquard gesprochen – immer leichter ist, Gewissen zu sein als selbst Gewissen zu haben. Und wir werden dabei zu Inquisitoren und zur Sprachpolizei der anderen. Mit einer Hypersensibilität für Mikroaggressionen und feine Nuancen. Wir gehören schließlich zur „judäischen Volksfront“, nicht zur „Volksfront Judäas“ (Monty Python). Auch wenn viele die Identitäts-Marker eines intellektuell-kreativen Milieus nicht verstehen. 80 Prozent der Deutschen sind keine Akademiker/innen.

Die Folge dessen ist einerseits eine Empörungserschöpfung: „Über wen hätte ich mich diese Woche eigentlich noch aufregen müssen?“ Und andererseits eine Einschüchterungskultur: „Das würde ich öffentlich so niemals sagen.“ Laut Allensbach gab 1991 78 Prozent der Deutschen an, ihre Meinung frei äußern zu können, 2021 waren es noch 45 Prozent. So weit Hübl.

Moral als Statusspiel. Für Kirche und Pfarrer/innen stellt sich diese Frage noch einmal besonders. Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner ist uns ins Stammbuch geschrieben – ohne die damaligen Pharisäer diskreditieren oder die Zöllner verklären zu wollen.

Eugen Roth: Der Salto

Ein Mensch betrachtete einst näher
die Fabel von dem Pharisäer,
der Gott gedankt voll Heuchelei
dafür, dass er kein Zöllner sei.
Gottlob! rief er in eitlem Sinn,
dass ich kein Pharisäer bin!

Jesus selbst hat Werte gelebt. Ethische Orientierung gegeben. Moralisch gehandelt. Doch sein Evangelium ist seinem Wesen nach zutiefst a-moralisch. Da geht es darum, dass meine rechte Hand nicht weiß, was die linke tut. Weil ich mir eben selbst im Letzten verborgen bin. Ob es gut war, meine liebe Linke, oder nicht: der Herr wird’s weisen. „Und Gott, der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten.“

Es geht um die bessere – oder treffender: die ganz andere Gerechtigkeit. Eben eine Gerechtigkeit höherer Ordnung, die sich nicht an den Likes meiner Community orientiert, sondern an Gott. Der seine Sonne aufgehen lässt über Guten und Bösen, Gerechten und Ungerechten. „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Es geht um eine Liebespraxis, die die soziale Ansteckung nicht scheut – weder von Pharisäern noch von Zöllnern, Zeloten oder römischen Soldaten. „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.“ Es geht mithin um die Rechtfertigung des Gottlosen. Des Sünders. Meines eigenen unannehmbaren Ichs mit all seinen Schattenseiten.

Doch was heißt das für unser Zusammenleben? Wie kommen wir aus dem Moralspektakel heraus? Hübl bringt es pointiert formuliert auf acht Alternativen: Gemeinsamkeiten statt Unterschiede; Universalismus statt Relativismus; Fakten statt Ideologie; Taten statt Symbole; Gerechtigkeit statt Identität; Diskussions- statt Einschüchterungskultur; Vernunftmoral statt Moralinstinkt; Demokratie statt Spektakel.

Oder anders ausgedrückt: Mehr kollektive moralische Bescheidenheit täte gut. Pred 7,16: „Sei nicht allzu fromm und übertreib es nicht mit deiner Moral, damit du dich – und deine Mitmenschen – nicht zugrunde richtest.“ Und weniger erregte Empörung. Sonst passiert mir allzu leicht, wovor Jesus eindrücklich warnt:

Ich siebe Mücken aus und verschlucke Kamele.
Ich gebe den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasse das Wichtigste beiseite, nämlich Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Glauben.
Ich poliere meine Social-Media-Profile wie ein getünchtes Grab, aber nicht mein Inneres.

Was hilft, das Leben anderer wirklich effektiv gerechter zu gestalten? Menschenfreundlicher miteinander umzugehen. Gottes Schöpfung wirksam zu bewahren. Kriegen zu wehren. Und wo geht es darum, wer wie was gesagt hat, wer wie warum sich davon verletzt fühlt, weil der die das so auf keinen Fall hätte sagen dürfen? Meine fein kalibrierte Goldwaage für die Worte der anderen.

Gnothi seauton. Als das Orakel von Delphi nach dem weisesten Mensch auf Erden befragt wurde, war seine Antwort: Sokrates. Der, der von sich gesagt hat: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Gerade auch moralisch. Und natürlich: Auch diese Antwort war eurozentrisch, patriarchal, diskriminierend. Sie hätten nur einmal mit Xanthippe sprechen müssen.

Die Haltung einer grundlegenden Irrtumsfähigkeit all meiner moralischen Erkenntnisse könnte hier helfen, menschlicher mit meinen Mitmenschen umzugehen. Auch mit denen, die so eine ganz andere Meinung haben als meine. Diese Haltung gründet für uns als Christinnen und Christen letztlich in Gott als der einen allumfassenden Liebe; „Wer meint, etwas erkannt zu haben, der hat noch nicht erkannt, wie man erkennen soll. Wer aber liebt, der ist von Gott erkannt.“ (1. Kor 8,2f.)


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