– Warum wir dringend anders über Armut reden müssen. Theologische Impulse (181) von Präses Dr. Thorsten LatzelThorsten Latzel
Rheinland (Weltexpresso) - Am 11. November ist es wieder so weit: Wir feiern das Martinsfest, machen Laternen-Umzüge, essen Gänsebraten. Doch wenn das alles mehr sein soll als frommes Brauchtum, gilt es zu tun, was Martin von Tours im 4. Jahrhundert getan hat: die Sache der Armen zur eigenen machen.
Martin sieht einen frierenden Bettler, zerschneidet seinen Soldatenmantel und teilt ihn mit ihm. Seine berühmte Zeichenhandlung ist zum Symbol geworden. Sie erinnert an die Worte Jesu: „Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet.“ (Mt 26,36) Wie Jesus Christus nimmt er Armut persönlich und lässt sich durch sie verändern. Heute hätte Martin viel zu tun und zu teilen.
Armut hat viele Gesichter in einem reichen Land wie Deutschland:
- Wir haben Kinderarmut. Jedes fünfte Kind unter 18 ist in Deutschland von Armut betroffen, also mehr als drei Millionen. Viele gehen ohne Essen zur Kita oder Schule. Von gleichen Bildungschancen keine Spur. Von Kino, Hobbys oder Urlaub lässt sich nur träumen.
- Wir haben Familienarmut, gerade bei Alleinerziehenden. Wohnungen sind für viele nur noch schwer zu bezahlen. Ab der Mitte des Monats wird an allem gespart. Inflation wirkt sich bei Nahrung und Heizkosten besonders aus. Und Armut wird sozial weitervererbt.
- Wir haben Altersarmut. Oft bleibt Armut dabei verdeckt, ist mit Gefühlen von Schande und Vereinsamung verbunden. Alte Menschen, die Flaschen sammeln, sind nur die Spitze des Eisbergs. „Arm im Alter“ heißt, schlechter versorgt sein, häufiger krank, früher sterben. Essen, Bildung, Wohnung, Kleidung, Teilhabe – all das gilt es heute wie Martin zu teilen. Nicht als Almosen, sondern als persönliches Anrecht. Weil es um Würde und soziale Gerechtigkeit geht. Weil Armut eine Gesellschaft spaltet, aber „Gerechtigkeit ein Volk erhöht“ (Spr. 14,34). Und weil wir es uns gar nicht leisten können, Menschen zu verlieren. Stattdessen werden verzerrte Diskussionen geführt, über die man sich nur wundern kann.
- Wir reden nicht über die ungleiche Verteilung von Vermögen: Innerhalb des Euroraums hat Deutschland eine der höchsten Ungleichheiten. Das wohlhabendste Prozent der Bevölkerung besitzt geschätzt zwischen 25 und 30 Prozent des Vermögens, während die gesamte ärmere Hälfte der Bevölkerung nur etwa zwei bis drei Prozent besitzt.
- Wir reden nicht über eine Kindergrundsicherung, die Kinder vor Armut bewahrt. Und nicht davon, wie Bildungschancen fairer verteilt werden können.
- Wir reden nicht über Maßnahmen, um Armut vorzubeugen und Menschen aus der Armut herauszuhelfen. Nicht davon, warum es fast 1000 Essenstafeln in Deutschland geben muss.
- Stattdessen reden wir fast nur vom „Missbrauch sozialer Leistungen“, als sei das das Kernproblem.
Martin von Tours wusste, dass sein halber Mantel die Armut des Bettlers nicht beseitigt. Aber er hat sich von seiner Not berühren und verändern lassen. Wir leben heute in einem freien, demokratischen Rechtsstaat, in dem die Würde jedes Einzelnen die erste Pflicht aller staatlichen Gewalt ist (Art. 1 GG). Und wir haben ganz andere Möglichkeiten, Armut effektiv zu bekämpfen. Wenn wir Jesus Christus nachfolgen, können wir nicht anders, als Armut persönlich zu nehmen. „Gebt ihr ihnen zu essen!“ (Mk 6,37) Das ist Jesu Auftrag an uns als Christinnen und Christen.
Das fängt dabei an, wie ich mit bedürftigen Menschen am Bahnhof oder in der Einkaufsstraße umgehe – wahrnehmen, nachfragen, etwas geben, sie als Menschen mit Würde behandeln. Jeder und jede von ihnen hat einen Namen, eine Geschichte, ein Gesicht.
Das zeigt sich weiter darin, wie ich über Armut spreche. Arme sind keine Aussätzigen oder Aliens. Armsein ist kein Schicksal, das sich nicht ändern ließe oder mich nichts anginge.
Und es reicht bis zu dem, wofür ich mich gemeinsam mit anderen engagiere – in meiner Stadt, in unserem Land, weltweit. Armut ist kein individuelles Versagen, sondern eine Schande für unsere Gesellschaft. Sie geht uns persönlich an, wie Martin von Tours.
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