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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2019 11 23 um 01.42.58Washington gab bekannt, israelische Siedlungen nicht mehr als völkerrechtswidrig zu betrachten

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Als «Koscherstempel für die Siedlungen» bezeichnete die israelische Tageszeitung «Yediot Achronot» den Beschluss der Administration Trump, den der amerikanische Außenminister Mike Pompeo veröffentlicht hatte. Demzufolge stünden die israelischen Siedlungen in der Westbank (oder Judäa und Samaria, wie die «Administration Netanyahu» sie offiziell nennt) nicht im Widerspruch zur internationalen Gesetzgebung. Diese Definition hat seit 1978 Bestand.

Zu dem Zeitpunkt gab der damalige Rechtsberater von Jimmy Carter, Herbert J. Hansel, ein nach ihm benanntes Dokument bekannt, wonach die Siedlungen die internationalen Gesetze verletzen. Dieser Irrglauben machte in Windeseile die Runde. Immer wieder benutzten israelkritische Organisationen und Stimmen dessen Inhalt dazu, den jüdischen Staat, vor allem seine Praktiken in der Westbank, in Ostjerusalem und auf dem Golan an den Pranger zu stellen. Mit ihrer Forderung nach einer spezifischen Etikettierung aller aus den israelischen Siedlungen stammenden Nahrungsmittel hatte die EU, wie sich nachträglich herausstellte, den Bogen eindeutig überspannt. Ohne dass der Zusammenhang mit Europa offiziell gemacht worden wäre, warf Mike Pompeo mit seiner Erklärung das Gefühl der Israeli, in der ­Westbank de facto «als Ausländer in der eigenen Heimat» zu wohnen, in Bausch und Bogen in den Mistkübel der modernen Geschichte. Die israelischen Politiker machten nur zu gerne von der sich bietenden Gelegenheit Gebrauch.


Ein Rechtssystem im Recht?

Premierminister Netanyahu etwa, aber auch Blauweiss-Chef Benny Gantz sprachen von der «Annahme einer wichtigen Politik» durch die USA, die einen «historischen Fehler» korrigieren. Washingtons Politik reflektiere die «historische Wahrheit», dass das jüdische Volk keine ausländische Kolonialherrschaft in Judäa und Samaria darstelle. «In Tat und Wahrheit», sagte Netanyahu, «werden wir Juden genannt, weil wir das Volk von Judäa sind.» Die Politik der Administration Trump sei auch insofern korrekt, als sie festhalte, dass jene, die kategorisch den Siedlungen jede rechtliche Basis absprechen, nicht nur «Wahrheit, Geschichte und die Realität im Felde» verleugnen, sie würden auch der Sache des Friedens einen Rückschlag versetzen, könne der Friede doch nur durch Direktverhandlungen zwischen den Parteien erzielt werden.

Das israelische Rechtssystem, fuhr Netanyahu fort, das sich als fähig erwiesen habe, sich mit juristischen Fragen, die Siedlungen betreffend, zu befassen, sei der «geeignete Platz» für diese Angelegenheiten, und nicht «tendenziöse internationale Foren», die weder der Geschichte noch den Fakten ­Aufmerksamkeit verleihen. Israel bleibe «bereit und gewillt», mit den Palästinensern Friedensverhandlungen hinsichtlich aller Themen des endgültigen Status zu führen, im Bestreben um einen dauerhaften Frieden. «Israel wird aber», betonte Netan­yahu, «weiterhin alle Argumente bezüglich der Illegalität der Siedlungen zurückweisen.» Israel sei Präsident Trump, Aussenminister Pompeo und der ganzen US-Administration «zutiefst dankbar» für ihre standfeste Position, die Wahrheit und Gerechtigkeit unterstütze. Netanyahu appellierte schliesslich an alle verantwortungsbewussten Staaten, die hoffen, den Frieden zu fördern, eine ähnliche Position einzunehmen. Oded Revivi, den Gesandten des Siedlungsrats für ausländische Beziehungen, sah nun die Zeit gekommen, «das israelische Gesetz in Judäa und Samaria in Anwendung zu bringen». Revivi dankte den USA für ihren Schritt.


Jubel im rechten Lager

Das mit der israelischen Gesetzgebung für die Siedlungen schwebt den Rechtsparteien schon lange vor und wird immer wieder aufs Tapet gebracht. Es würde nicht überraschen, wenn Netanyahu, falls er als erster Premierminister aus dem Koalitionsgerangel hevorgeht, diesen für den Friedensprozess sehr problematischen Schritt schon recht bald nach der Regierungsbildung in eine praktische Phase lenken würde.

Die Jubelstimmung, die in Israel, sicherlich rechts von der Mitte, herrscht, schlug sich auch in den meisten Medienkommentaren nieder. Nachstehend Auszüge aus dem Artikel «Die Wahrheit tritt ans Licht», den Yifat Erlich am Dienstag in «Yediot Achronot» publiziert hat:

«Die Lüge kann nicht überleben. Zum Schluss wird die Wahrheit auch dann durchdringen, wenn die Lüge noch und noch durchgekaut wird. US-Aussenminister Mike Pompeo wies in einem feierlichen Moment, der in die Annalen der Geschichte eingehen wird, auf eine einfache Wahrheit hin. Das jüdische Volk hat Rechte auf Judäa und Samaria aufgrund historischer, rechtlicher und moralischer Bande. Diese einfache Wahrheit ist im Laufe der Jahre immer mehr verblasst. Sie ist in den internationalen Organisationen verblasst, aber auch unter uns selber. Der palästinensischen Propaganda ist es gelungen, in der Welt das Kürzel OPT (Occupied Palestinian Territories) in Stein zu meisseln. Auch bei uns begann man, die Lüge zu glauben, dass Judäa und Samaria palästinensische Gebiete seien, die wir als Eroberer besetzen. Dies, obwohl es nie einen palästinensischen Staat gegeben hat, der diese Gebiete gehalten hätte. Europa, ausgerechnet Europa, hat diese Theorie mit Wärme umarmt. Wie schön es doch sein muss, dem Staat der Juden Etiketten des Kolonialismus und der Eroberer anzuhaften. Wie gut tut dies doch dem Gewissen. (...) Der Beschluss der EU von letzter Woche, der eine spezielle Kennzeichnung für Lebensmittel verlangt, die Israeli auf dem Golan, in Judäa und Samaria und Jerusalem herstellen, bedeutet ein neues Blatt der Heuchelei. Man müsse dazu Sorge tragen, den Konsumenten nicht in die Irre zu führen, nicht in gesundheitlicher, aber auch nicht in rechtlicher und moralischer Hinsicht. Deshalb müsse man ihm mitteilen, dass das Produkt, das er kauft, in Siedlungen produziert worden ist, deren Existenz alleine schon dem internationalen Gesetz widerspricht (...). 700 000 Israeli leben heute in Judäa und Samaria und Ostjerusalem. In den letzten 50 Jahren haben sie dort die dritte und vierte Generation grossgezogen, die nicht nur ein historisches Recht der Väter besitzen, sondern auch ein persönliches Recht der Nachkommenschaft. Es ist an der Zeit, dass die Welt die simple Wahrheit anerkennt: Das jüdische Volk ist in seine historische Heimat zurückgekehrt.»


Palastrevolution nötig?

Soweit Yifat Erlich. Die von ihr herbeigesehnte Debatte ist nicht neu, doch in dieser extensiven, von externen Kräften geförderten Form steht sie erst an ihrem Anfang. Sobald Israel seine Gesetzgebung auf die Siedlungen und das Jordantal ausdehnt, dürfte das Verbleiben der palästinensischen Bevölkerung in ihrem angestammten Wohnraum von immer mehr Bedingungen abhängig gemacht ­werden. Sollten israelische Regierungen und Politiker dann nicht ein Maximum an Vernunft, Einsicht und Humanität beweisen, könnten die Gebiete schon bald Gefahr laufen, zu einer Szenerie zu werden, in der so undemokratische Instrumente wie Ausschaffungen und Enteignungen sehr rasch schon zum Alltag gehören könnten. Das kann wohl kaum zu den Zielen der grössten Demokratie der Welt gehören.

Wie dem auch sei: Die Jerusalemer Koalitionsgespräche, die noch am Mittwoch, wenige Stunden vor Torschluss wegen gegenseitiger Sturheit und Partikularinteressen im Argen lagen, werden früher oder später ihr Ende erreichen. Das wird entweder zu einer Regierung der nationalen Einheit führen, was am Mittwochmorgen aber aus den genannten Gründen immer unwahrscheinlicher aussah. Oder sonst würde nur noch übrigbleiben, was im Volk kaum jemand möchte: ein weiterer Urnengang mit einem vermutlich kaum wesentlich anderen Ausgang als bisher. Seien wir aber ehrlich: Das Volk will die Wahlen nicht. Was hat das letzten Endes zu bedeuten? Schliesslich manipulieren ein Mann und seine ihm ergebene Gefolgschaft die Szene im Wissen, dass das Überleben des Mannes in politischer Hinsicht und auch als freie Person von ihrem Wohl- oder auch Unwohlverhalten abhängt. Bleibt da wirklich nur noch die Palastrevolution übrig?

Foto:
Mit der Bekanntgabe, israelische Siedlungen nicht mehr als völkerrechtswidrig zu betrachten, setzen die USA ihren betont proisraelischen Kurs fort. Alles nur politisches Kalkül der Administration...
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 22. November 2019