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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2020 11 05 um 18.18.40Bildschirmfoto 2020 11 05 um 18.22.52. . .die Spaltung Amerikas und die „sanften Leitplanken“ der Demokratie

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Die Auszählung der Stimmen war noch voll im Gange – im Wahlmännergremium stand es 220 zu 213 für Joe Biden – da erklärte sich Amtsinhaber Donald Trump zum Sieger der Präsidentschaftswahl in den USA und kündigte an, er werde  die weitere Auszählung der Stimmen durch das Oberste Gericht stoppen lassen. Tut man das?

Kurz vor der Wahl sind zwei amerikanische Wissenschaftler, Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, der Frage nachgegangen, ob die amerikanische Demokratie am Ende ist. Ihrer Meinung nach reichen Verfassungen allein nicht aus, um die Demokratie zu schützen. Selbst die brillanteste Demokratie funktioniere nicht automatisch, sondern müsse durch starke, ungeschriebene demokratische Normen verstärkt werden, erklärten die beiden in Harvard lehrenden Professoren in einem Aufsatz, der am 18. September 2020 auf der Webseite der US-Gewerkschaft American Federation of Teachers veröffentlicht worden ist. (Deutsch in Blätter für deutsche und internationale Politik, 11/20).

Zwei grundlegende Normen seien für eine Demokratie unerlässlich: Die gegenseitige Tolerierung, also die Anerkennung der Legitimität des politischen Konkurrenten, und der Verzicht auf die unbedingte Durchsetzung des eigenen Rechtsanspruchs, also die vorsätzliche Selbstbeschränkung. Das von den beiden Wissenschaftlern als institutionelles Unterlassen bezeichnete Verhalten sei grundlegend für eine Demokratie. Beide ungeschriebenen Normen dienten  als „sanfte Leitplanken“ der Demokratie. Sie würden seit drei Jahrzehnten in Amerika ausgehöhlt. Levitsky und Ziblatt verweisen in diesem Zusammenhang auf ihr 2018 erschienenes Buch „Wie Demokratien sterben“.

Begonnen habe diese Aushöhlung damit, dass ein führender Republikaner seinen Parteifreunden  nahe gelegt habe, immer von „Betrug“ und „Verrat“ zu sprechen, wenn es um die Demokraten gehe. Damit habe er die Republikaner aufgefordert, die gegenseitige Tolerierung aufzugeben. Treibende Kraft hinter der Erosion demokratischer Normen sei die Polarisierung. In den vergangenen 25 Jahren hätten Republikaner und Demokraten einander fürchten und hassen gelernt. Nach Ansicht der beiden Autoren ist ein gewisses Maß an Polarisierung normal und gesund für die Demokratie. Extreme Polarisierung könne sie jedoch töten.

Wenn Politik so polarisiert sei, dass ein Sieg des politischen Konkurrenten als katastrophal oder indiskutabel betrachtet werde, würden außergewöhnliche Maßnahmen bis hin zum militärischen Putsch für gerechtfertigt gehalten. Nahezu alle bekannten Zusammenbrüche einer Demokratie hätten in einem Klima extremer politischer Polarisierung stattgefunden, von  Deutschland und Spanien in den 1930er Jahren angefangen über Chile in den 1970er Jahren bis hin zur Türkei in den früher 2000er Jahren. Was heute in den USA geschehe sei keine traditionelle Polarisierung zwischen Linksliberalen und Konservativen. Die Menschen fürchteten und hassten einander nicht wegen Steuerfragen oder der Gesundheitspolitik. Die heutigen Spaltungen  reichten tiefer. Da gehe es um die ethnische und kulturelle Identität.

Durch Einwanderung und Schritte zu mehr ethnischer Gleichheit sei die amerikanische Gesellschaft vielfältiger und demokratischer geworden, konstatieren die beiden Professoren. Diese Veränderungen hätten sowohl die Größe als auch den gesellschaftlichen Status von Amerikas ehemaliger christlicher Mehrheit untergraben. Der Verlust dieser Dominanz werde als existentielle Bedrohung empfunden und wirke politisch explosiv. Die Republikaner verträten zunehmend das weiße christliche Amerika, die Demokraten alle anderen. „Diese Spaltung liegt der tiefen Polarisierung unseres Landes zugrunde“, resümieren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. Viele Republikaner fürchteten sich vor der Zukunft. Slogans wie „Make America great again!“ spiegelten dieses Gefühl der Gefährdung wider.

In einer Demokratie müssten Parteien wissen, wie man verliert. Ohne diese Norm des würdevollen Verlierens könne eine Demokratie nicht bewahrt werden.
Ob Donald Trump das weiß?