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Kategorie: Zeitgeschehen
Viel Platz zwischen Schein und Sein Baerbock Habeck versus HofreiterEine Partei entlarvt sich im Koalitionsvertrag

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die Parteien der sogenannten Ampelkoalition wollen „mehr Fortschritt wagen“.

Ein solcher Fortschritt könnte als deutliche Absetzbewegung von der bisherigen Art des Wirtschaftens inklusive des Konsumierens und nicht zuletzt des Verbrauchs natürlicher Ressourcen verstanden werden – sowohl in Deutschland als auch in der EU und in allen anderen Ländern der Erde. Also als Negation all dessen, was uns derzeit auf die Füße fällt. Neben der drastischen Reduktion schädlicher Emissionen wäre das auch die Definition von Boden, Wasser und Luft als generationenübergreifendes Gemeineigentum ohne jede Möglichkeit zur privaten, gar kommerziellen Aneignung. Die Klimakrise, die sich als Vorbotin einer Klimakatastrophe erweist, könnte der Hauptkatalysator für diese umfassende Wende sein.

Avantgardist einer solchen Entwicklung wären theoretisch die Grünen. Zumindest dann, wenn sich diese Partei noch den Inhalten verbunden fühlte, die sie 1980 als ihre Grundüberzeugungen festgeschrieben hat. Weil SPD, CDU und FDP damals Lageeinschätzungen und notwendige politische Ziele fehlten, ergriffen Leute wie Petra Kelly die Chance, die historische Notwendigkeit für eine Neugründung zu nutzen. Doch 40 Jahre danach scheint die Umweltpartei verschlissen zu sein. Insbesondere in Koalitionen, deren Partner von völlig anderen Interessen bestimmt sind. Ein typisches Beispiel dafür sind die Grünen in Hessen. Dort erwecken sie den Eindruck, eilfertige Lakaien der CDU zu sein. Doch bereits in Gerhard Schröders rot-grünen Koalitionen erwiesen sie sich als Unterstützer und Vollstrecker der antisozialen Agendapolitik. Deswegen zweifelten nicht wenige an der Aufrichtigkeit des Gespanns Annalena Baerbock und Robert Habeck.

Dieser neue grüne Aufbruch wurde wesentlich getragen durch die Protestaktionen junger Menschen, die sich unter dem Schlagwort „Fridays for Future“ in Deutschland und in anderen westlichen Ländern lautstark zu Wort melden. Doch die geben bereits zu, dass sie anscheinend betrogen wurden. In einer ersten Stellungnahme heißt es: „Mit ihren vorgelegten Maßnahmen entscheiden sich die drei Parteien bewusst für eine weitere Eskalation der Klimakrise." Der Koalitionsvertrag verströmt tatsächlich in allen relevanten Bereichen, auf die es ankommen wird, falls man fortschrittlich sein will, eine kontraproduktive Beliebigkeit.

Zwar soll der Kohleausstieg bereits 2030 kommen, acht Jahre früher als bisher geplant. Doch ein Wort im Koalitionsvertrag – nämlich „idealerweise“ - unterwirft das Vorhaben den allzu bekannten Sachzwängen, die nachweislich nicht von Sachen, sondern von kommerziellen Interessen ausgehen. Allein dieser Passus ist ein Beleg dafür, dass sich die Grünen auf ihren ureigensten Feldern in den Verhandlungen nicht oder nur unzureichend durchsetzen konnten.

Beim Klimaschutz wollen die Parteien der Ampel-Koalition ein Regelwerk schaffen, „das den Weg frei macht für Innovationen und Maßnahmen, um Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen". Das klingt wie die Sprache der Werbung. Was im Einzelnen verheißen oder bewusst nicht verfolgt wird, lässt sich dieser Phrase nicht entnehmen. Zwar soll im Jahr 2030 ein Viertel mehr Güter als heute auf der Schiene transportiert werden. Und doppelt so viele Menschen im Personenverkehr. Das erfordert mehr Investitionen für die Schiene. Andererseits ist ein Stopp für den Fernstraßenausbau im Vertragswerk nicht zu finden. Der nicht erwähnte Verzicht auf ein Tempolimit spricht Bände. Verlautbart wird lediglich die Absicht, dass auf den Autobahnen Sanierungen, insbesondere von Brücken, den Vorrang haben sollen.
Auch die Ziele für Elektromobilität klingen sehr ambitioniert. Die an die Wand des Koalitionsgebäudes geschriebenen 15 Millionen E-Autos bis 2030 sind ein mutiger Entwurf. Denn die Vorgängerregierung hat bislang nur sieben bis zehn Millionen dieser Fahrzeuge für realisierbar gehalten. Die künftige Bundesregierung will sich in Brüssel für eine „ambitionierte und umsetzbare" Schadstoffnorm EURO 7 für Autos einsetzen. Dann sollen die Messmethoden ein Niveau erreicht haben, dass Benziner- und Dieselfahrzeuge diese mutmaßlich nicht mehr erfüllen können. Vor allem, weil eine technische Anpassung bzw. der Aufwand so hoch, sprich teuer, sein könnten, dass Verbrenner unrentabel würden. Der Konflikt mit der Autoindustrie scheint vorprogrammiert zu sein. Und damit auch der koalitionsinterne Zwist. Denn die Wirtschaft wird ihre Lobby in Alarmbereitschaft versetzen, was konkret die Mobilisierung der FDP bedeuten dürfte. Die SPD würde allen Erfahrungen nach von den Gewerkschaften in die Zange genommen, die das Menetekel des Arbeitsplatzverlusts in den Raum stellen. Die Grünen befänden sich dann in einem Mehrfrontenkrieg, den sie mutmaßlich nicht gewinnen können. Ein die Verhältnisse schönredender Robert Habeck ist eben kein Barrikadenkämpfer, der die rote Fahne der Systemüberwindung schwingt. Schließlich ist die Klimakrise die Krise jener Wirtschaftsform, die man verkürzt als Kapitalismus bezeichnet. Den aber möchte die Mehrheit der Grünen retten. Aber: Sowohl dem Klima als auch dem Kapitalismus ein Überleben zu ermöglichen, geht nicht. Feuer und Wasser können nicht zu einem Ying-und-Yang verschmelzen. Das müssen auch die anthroposophischen Esoteriker endlich begreifen, die bei den Grünen den Ton angeben. Und die auch angesichts immer höherer Covid-19-Inzidenzen mit Schlagworten wie Freiheit und Selbstbestimmung gegen eine Impfpflicht zu Felde ziehen.

Grüner Wasserstoff soll nach dem Willen der Koalition vorrangig in den Wirtschaftssektoren genutzt werden, in denen eine direkte Elektrifizierung nicht möglich ist. Unter dem Druck der FDP wollen sie jedoch „den Einsatz von Wasserstoff nicht auf bestimmte Anwendungsfelder begrenzen". Zum Klimakiller Luftverkehr findet man übrigens nichts Konkretes im Koalitionsvertrag, was wiederum tief blicken lässt.

Folglich bezweifelt beispielsweise Olaf Band, der Vorsitzendes des BUND, ob die Vereinbarungen der drei Partien ausreichen werden, um die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten. Die Klima-Allianz, ein Zusammenschluss von 140 Organisationen, bemängelt den Neubau von Gaskraftwerken und die eher vagen Aussagen zum Abbau von umweltschädlichen Subventionen.

Vor diesem Hintergrund erhält die bisherige Personalplanung der Grünen ein ganz besonderes Geschmäckle. Robert Habeck soll als Vizekanzler das Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz übernehmen – seine Vorerfahrungen auf diesen Sektoren lassen sich auf einem Blatt in Briefmarkengröße beschreiben. Annalena Baerbock kann sich die grüne Führungsschicht sogar als Außenministerin vorstellen, was bei mir bereits erste Anzeichen von Fremdschämen hervorruft. Dem Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft wird Cem Özdemir vorstehen – und nicht der promovierte Biologe Anton Hofreiter. Claudia Roth könnte als Staatsministerin für Kultur und Medien die grüne Ministerriege krönen. Vermutlich wird sie nicht noch einmal „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ singen. Anne Spiegel aus Rheinland-Pfalz ist als Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgesehen. Das Ressort Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz soll an Steffi Lemke gehen. Das wären, gemessen an fachlichen Kriterien, immerhin nachvollziehbare Besetzungen.

Für wahr, wir leben in finsteren Zeiten, auch wenn diese grün kaschiert sind.

Foto:
Viel Platz zwischen Baerbock & Habeck und Hofreiter

© ARD