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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2022 02 19 um 23.53.18Moskaus Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt sorgt sich im Gespräch um die jüdische Gemeinschaft der Ukraine

Yves Kugelmann

Moskau (Weltexpresso) - Moskaus Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt ist Vorsitzender der Europäischen Rabbinerkonferenz – er ist in Sorge um Juden in Russland und in der Ukraine.


tachles: Sie sind gerade nach Moskau zurückgekehrt. Wie beurteilen Sie die Situation – gibt es noch einen diplomatischen Ausweg, kann ein Krieg verhindert werden?

Pinchas Goldschmidt: Wir wissen hier nicht mehr als alle anderen ausserhalb Russlands. Und auch wir fragen uns, ob es Krieg geben wird oder nicht.


Was heisst das konkret für die jüdischen Bevölkerungen auf beiden Seiten, die Sie als Russlands Oberrabbiner und Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz vertreten?

Konkret haben sich die jüdischen Gemeinden in der Ukraine auf eine Evakuation vorbereitet. Die israelische Regierung ist mit ihnen in Kontakt, um nötigenfalls die Evakuation vorzunehmen. Hoffen wir, dass es nie so weit kommen wird.


Die jüdische Gemeinde der Ukraine blüht seit Ende des Kalten Krieges auf. Viel Aufbauarbeit wurde geleistet. Ist das nun die Kehrtwende und wird ein Grossteil Alija machen?

Es ist eine wunderschöne jüdische Gemeinde, die in verschiedenen Städten konzentriert ist. In der Ukraine befindet sich ja auch Uman, wo sich Zehntausende Juden zu Rosch Haschana einfinden, um zusammen zu feiern. Diese Gemeinde wurde in den letzten 30 Jahren mit vielen Synagogen und jüdischen Schulen erst aufgebaut. Es wäre wirklich sehr traurig, wenn all dies in ein paar Tagen in sich zusammenfallen würde.


Sie haben einen direkten Draht zu Wladimir Putin. Wäre es naiv zu glauben, dass ein Rabbiner in so einer Situation Einfluss nehmen könnte?

Es waren ja in letzter Zeit alle grossen politischen Vertreter des Westens mit ihm in Verbindung. Ich glaube nicht, dass nun ein paar Geistliche die Situation wirklich ändern könnten. Wir hoffen, und wir beten für den Frieden.


Sie gehen in Ihre dritte Amtszeit als Vorsitzender der Europäischen Rabbinerkonferenz. Sicherheit, Pandemie, Ökonomie haben Sie kürzlich als wichtigste Prioritäten genannt. Wie ist die Situation in Europas jüdischer Gemeinschaft?

Gemäss dem letzten November veröffentlichten Report des amerikanischen Pew Research Center betrachten heute europäische Juden drei Probleme als die grössten für das Judentum in Europa. Das sind zum einen Antisemitismus, was auch mit der Sicherheit zu tun hat, zweitens die Armut der Gemeinden, die durch die Pandemie viel kleiner und ärmer geworden sind, und zu guter Letzt die neuen Gesetze gegen die Praxis des jüdischen Lebens, die Brit Mila und die Schechita, die in Europa immer mehr dazu beitragen, jüdisches Leben zu beeinträchtigen. Dieses Problem hängt aber ganz generell mit der Freiheit der Religionsausübung zusammen. Wir versuchen mit Partnern aus anderen Religionen und mit verständigen Regierungen zusammenzuarbeiten, um diese Welle von neuen Gesetzen zu stoppen.

Sind diese Gesetze denn tatsächlich gegen das Judentum gerichtet und nicht einfach dem heutigen Zeitgeist geschuldet?

Es waren ursprünglich sicher Tier- und Kinderschutzbewegungen dahinter, aber sie hatten nicht genügend politische Macht. Mit dem Zuzug von 40 Millionen Muslimen innerhalb Europas haben die extremen Rechten diese Ideen unterstützt, es kam zu einer Allianz. Deshalb konnten sie nun in ein paar Ländern diese Gesetze durchsetzen. Als jüdische Gemeinde sind wir dabei der Kollateralschaden.


Das Judentum kennt ja Wege, selbst bei neuen Gesetzeslagen etwa mit dem Prinzip «Dina de malchuta dina» sich anzupassen. Wie sehen Sie das als Rabbiner?

Sie wissen ja, dass mit dem Schächtverbot in der Schweiz das Koscherfleisch etwa dreimal so viel kostet wie in anderen Ländern Europas. Viele Familien können sich das einfach nicht leisten. Aber die Gesetze werden grundsätzlich einer der Gründe für die Emigration aus Europa sein – die Leute sagen, sie haben genug, und werden nach Israel, England, Kanada oder in die USA emigrieren. Das ist, was passieren wird, denn die Leute haben heute die Wahl, wo sie leben wollen. Speziell betrifft das auch junge Paare, die Kinder haben wollen, wenn die Brit Mila verboten ist. Wenn europäische Politiker wollen, dass die Juden in Europa bleiben, müssen sie ihnen auch uneingeschränkt die Freiheit der Religionsausübung zugestehen.


In etlichen anderen Punkten sind die europäischen Regierungen auf die Juden zugegangen, etwa bei Sicherheitskosten, Antisemitismusbeauftragten, Förderungen jüdischer Gemeinden oder BDS. Müssten vielleicht die Rabbiner Lösungen suchen, um mit der Moderne in Einklang zu kommen?

Die Moderne ist in unserer Welt ein Fakt, und nicht nur ein Problem, sondern auch eine Chance. Es gibt traditionelle Dinge, welche die Europäische Rabbinerkonferenz schon heute nicht unterstützt und gutheisst, etwa das Blutabsaugen mit dem Mund nach der Beschneidung. Das haben wir außer- wie auch innerhalb der jüdischen Gemeinden kommuniziert.

Letztes Jahr haben Sie sich zur Frage der Giurim sehr klar positioniert. Hat sich daran nach den Gesprächen mit den Regierungsvertretern in Israel etwas verändert?

Wir und unsere Schwesterorganisation Rabbinical Council of America hatten lange Gespräche und Briefwechsel mit dem israelischen Religionsminister. Zusammen vertreten wir mehr als 80 Prozent der orthodoxen Rabbiner ausserhalb Israels. Im heutigen Global Village wirkt jede Änderung, die in Israel gemacht wird, auch ausserhalb Israels, und vice versa. Wir sind mit dem Religionsminister ziemlich weit vorangekommen, und ich glaube, dass die neue israelische Regierung, die das Ausmass der Probleme des Giurs nicht ganz verstanden hatte, diese heute besser begreift.


Wäre es nicht im Sinne der demografischen Entwicklung besser, wenn die Bestimmungen zum Giur nicht immer strenger, sondern wieder einfacher würden?

Genau die Frage, ob eine Liberalisierung des Giurs dem jüdischen Volk helfen würde, habe ich mit Professor Della Pergola besprochen. Er ist heute die grösste Kapazität in jüdischer Demografie. Nach seiner Auffassung würde eine Liberalisierung keinen demografischen Erfolg bringen. In Italien gab es eine Phase, in der man Kinder jüdischer Väter und nicht jüdischer Mütter konvertiert hat, ohne dass die Mutter konvertieren musste. Aber diese Kinder betrachteten sich selbst später nicht als Juden. Mit einem Pro-forma-Giur löst man überhaupt keine demografischen Probleme des jüdischen Volkes.


Die finanziellen Möglichkeiten von Gemeinden und Familien in Europa sind ein weiteres Problem, dabei fliesst ja viel philanthropisches Geld. Ist das Judentum zu teuer geworden?

Es kostet sicher mehr Geld, ein praktizierender Jude zu sein, als keiner. Und eine Gemeinde braucht ein Schulwesen oder zumindest Religionsunterricht – das kostet auch. Es gibt eine Sozialabteilung, einen jüdischen Friedhof und vieles mehr. Um jüdisch zu bleiben, muss man jüdisch aktiv sein, und das kostet Geld. Früher hat Israel immer Geld von der Diaspora haben wollen. Heute verstehen viele in Israel, dass es keine Alija geben wird, wenn es keine jüdischen Schulen in der Diaspora und damit keine Juden mehr geben wird. Deshalb ist auch Israel an einem aktiven jüdischen Leben und Erziehungswesen ausserhalb Israels interessiert.


Sollten die jüdischen Gemeinden ein besseres Geschäftsmodell suchen?

Bei Chabad etwa bekommt man ausser dem Platz auf dem Friedhof ja alles gratis.
Chabad ist ein ganz neues Modell des Judentums, ganz anders als das alte Gemeindemodell. Aber was wir unseren Gemeinderabbinern sagen und von Chabad lernen können ist, dass der Rabbiner raus aus der Synagoge muss. Er muss auf die Strasse, ins Internet, in die sozialen Medien; er muss aktiv sein und die verschiedenen Juden überall aufsuchen.


Chabad zieht auch Leute aus den Gemeinden ab. Macht Ihnen das Sorgen für die Zukunft?

Die Welt ändert sich jeden Tag. Deshalb muss sich auch die geistige Führung der Gemeinden ändern. Das ist eine der grossen Aufgaben für mich als Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz, mit den jungen Rabbinern zu arbeiten. Denn auf der Jeschiwa wird nicht gelehrt, wie sie sich in den Bereichen Kommunikation, interreligiöser Dialog und Beschaffung von Geldern verhalten sollen. Wir führen nun bereits zum dritten Mal mit einem eigenen «Young Rabbis Program» ein Seminar für sie durch, um ihnen beizubringen, was heute nötig ist, um unsere Gemeinden weiter zu stärken. Um die jungen Rabbiner zu unterstützen, legen wir übrigens gerade auch ein Programm für junge Rebbezin auf.


Wie sehen Sie die Perspektiven der Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlich ausgerichteten Gemeinden, etwa in Bezug auf die politische Arbeit?

Ein großer Teil des Problems liegt darin, dass ein ebenfalls grosser Teil der jüdischen Bevölkerung zu keiner Gemeinde gehört. In den USA etwa sind weniger als 50 Prozent Gemeindemitglieder, und in Europa mag diese Zahl noch tiefer liegen. Auch die jungen israelischen Expats haben praktisch nichts mit Gemeinden zu tun, weil sie das von Israel her gar nicht kennen. Die grosse Herausforderung liegt also nicht bei den verschiedenen Strömungen, und unsere grosse Aufgabe besteht darin, das Judentum für die Jugend genügend interessant zu machen, dass sie Ja dazu sagt.


Haben Sie dazu konkrete Lösungsvorschläge?

Es gibt Gemeinderabbiner, die darin sehr, sehr erfolgreich sind. Man müsste diesen die Frage stellen.
 

Die Corona-Krise war und ist für die jüdische Gemeinschaft schwierig. Wo stehen wir heute? Und wird es in zehn Jahren noch immer Auswirkungen davon geben?

Viele haben noch Angst, ins Gemeindeleben zurückzukehren. Aber wir hoffen ja alle, dass wir in ein paar Monaten über dem Berg sind. Während der letzten zwei Jahre waren viele Leute sehr einsam, und diese kommen in die Gemeinde und Synagoge mit grosser Freude wieder zurück, wo sie wieder mit anderen sprechen und zusammen sein können. Aber viele Rabbiner waren ja während der Pandemie sehr aktiv und taten alles, um zumindest online das Gemeindeleben im Rahmen der Möglichkeiten zu unterstützen. Durch diese Online-Veranstaltungen haben auch viele Leute den Weg zu ihnen gefunden, die zuvor nichts mit der Gemeinde zu tun hatten.


Und wie sehen Sie gegenwärtig die Entwicklung der Schweizer jüdischen Gemeinden?

Vieles hat sich seit meinem Weggang aus der Schweiz vor 50 Jahren entwickelt, aber vieles ist noch immer gleich. Das ist interessant zu sehen. In anderen Ländern hat sich viel mehr verändert. Doch in der Schweiz ist alles sehr gut organisiert, sehr konservativ, und es ändert sich sehr wenig. In der heutigen dynamischen Welt ist das doch auch mal ein gutes Zeichen.


Eine sehr schweizerische diplomatische Antwort. Was sollte sich ändern, damit die Gemeinden in der Schweiz mit jenen Europas gleichzieht?

Ich weiss nicht, ob Änderung immer nötig ist. Es gibt Dinge, die keine Änderung brauchen. Aber eine gewisse Vitalität ist ja in der Schweiz vorhanden, denn viele grosse Gemeinden werden erfreulicherweise von jungen Rabbinern geführt.

Foto:
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 18. Februar  2022