Drucken
Kategorie: Zeitgeschehen
Fuldaer StraßeNeue Stolpersteine in Schlüchtern (1)

Hanswerner Kruse

Schlüchtern (Weltexpresso) -   Die Metzgerei, das neue Tonstudio, eine Musikschule in der Fuldaer Straße. Nichts deutet darauf hin, dass sich einst auf dem Areal dahinter eine enorme Seifensiederei mit bis zu 120 Arbeitern befand. Neue Stolpersteine sollen in der Fuldaer Straße 6 verlegt werden, um an das Schicksal der jüdischen Besitzerfamilie Wolf zu erinnern.


Ende der 1920er-Jahre siedelten Max und Ilse Wolf aus Platzgründen mit dem prosperierenden Dreiturm-Werk nach Steinau um. Dort ließen Sie ein beeindruckendes, heute denkmalgeschütztes Fabrikgebäude im Stil der Neuen Sachlichkeit errichten. 1935, nachdem die Nazis ihnen den Betrieb raubten, flüchteten sie nach England. Ihre Kinder Gerhard, Renate und Peter hatten sie dort bereits vorher in Sicherheit gebracht; so konnte die Familie den Naziterror überleben. Im Exil gründete Max Wolf sofort ein Unternehmen zur Herstellung von Seifen und kriegswichtigen Gütern, das ersparte ihm die britische Internierung nach Kriegsbeginn. Sein Enkel Max Wolf (dJ) lebt heute in Paris und bat die Stadt Schlüchtern, vor dem einstigen Wohn- und Firmensitz in der Fuldaer Straße, mit Stolpersteinen an seine geflüchtete Familie zu erinnern.

 KN Wolf 5553
Im Gegensatz zu vielen Opfern der Nazis wurden sie nicht primär aus ethnischen und religiösen Gründen verfolgt, sondern politisch, weil die Eigentümer engagierte Sozialisten waren. Max und Ilse Wolf behandelten und bezahlten ihre Beschäftigten überdurchschnittlich gut, führten die 40-Stunden-Woche ein und zahlten im Krankheitsfall die Löhne weiter. Die Beschäftigten wurden am Gewinn beteiligt, Ilse Wolf war stark sozial engagiert und unterstützte Kinder von Erwerbslosen. In Steinau florierte die Seifenfabrik noch stärker, die Produkte wurden im Direktvertrieb durch Hunderte von reisenden Händlern vertrieben. Dreiturm entwickelte sich zum größten Arbeitgeber der Region.

Diese Firma mit ethischen und sozialistischen Grundsätzen und ihren jüdischen Besitzern war den Nazis ein Gräuel. Gleich nach der Machtübernahme begannen sie die Wolfs, sowie leitende nicht-jüdische Angestellte, einzuschüchtern und willkürlich zu verhaften.


Die schrittweise „Arisierung“ und „Entjudung“ des „Kommunistennestes“ (Nazi-Sprache) wurde durch einen absurden Hochverratsprozess vorangetrieben und endete 1934 mit der Enteignung. Vergeblich wandten sich die Beschäftigten des Werkes öffentlich gegen die Diffamierungen und Angriffe durch örtliche Nazigrößen, etliche von ihnen gerieten dadurch auch in Gefahr.

 KN Wolf 5548Nach Kriegsende mussten die Wolfs drei Jahre lang um die Rückgabe ihres Besitzes kämpfen. Max Wolf starb 1948, seine Frau Ilse und Sohn Gerhard kehrten im gleichen Jahr nach Deutschland zurück, um die Seifensiederei wieder zu übernehmen. Aber sie wurden nie wieder richtig sesshaft in ihrer alten Heimat.

1825 gründete Victor Meier Wolf die Seifensiederei, eine der ersten ihrer Art in Deutschland, 15 Jahre später bezog das Unternehmen neue Gebäude an der Fuldaer Straße, wuchs kontinuierlich und teilte sich später. Die exemplarische Geschichte dieser weit verzweigten Familie ist deshalb so erschreckend, weil Juden und Christen im Altkreis Schlüchtern seit dem 19. Jahrhundert eigentlich respektvoll und friedlich zusammenlebten. Gemessen an der Einwohnerzahl, war die jüdische Gemeinde in Schlüchtern eine der größten im Deutschen Reich. Ihre Religion wurde akzeptiert, jüdische Mitbürger besetzten politische Ämter. Beispielsweise erschienen zur Einweihung der neuen Synagoge im Jahr 1898 viele christliche Prominente. Dennoch flackerte immer wieder Antisemitismus aus der deutschvölkischen Ecke und durch wirtschaftliche Konkurrenten auf.

So wie die Wolfs mussten zahlreiche Ingenieure, Wissenschaftler, Industrielle und Kaufleute vor den Nazis ins Ausland flüchten. Diese Flüchtlinge bereicherten das wirtschaftliche, wissenschaftliche und künstlerische Leben der Länder, in die sie emigrierten, Deutschland dagegen schädigte sich dadurch in jeder Beziehung selbst!

TERMIN:
Aufgrund ihrer politischen Einstellung bekannte sich die Wolf-Familie zu keiner Religion. Deshalb werden die Stolpersteine am Donnerstag den 28. Juli um 16 Uhr in einer säkularen Feierstunde in der Fuldaer Straße 6 verlegt. Max Wolf (dJ) wird mit seiner Familie anwesend sein.

Die Initiatoren erstellten eine Broschüre mit ausführlichen Informationen zur aktuellen und einer weiteren, für Mitte August geplanten Verlegung. Sie wird bei der Veranstaltung verteilt werden.

Wolf Fabrik

25 JAHRE STOLPERSTEINE
In Schlüchtern geht die Initiative auf die Kerngruppe Kerstin Baier-Hildebrand, Karin Stöcker, Inga Heß und Clas Röhl zurück. Seit 2019 verlegte der Künstler Günter Demnig hier bisher 18 Stolpersteine für vertriebene oder ermordete jüdische Mitbürger, dadurch soll an ihre Namen erinnert werden. Man soll über die Steine als künstlerische Objekte im übertragenen Sinne stolpern und ins Nachdenken kommen. Um den Text auf den Platten zu lesen, muss man sich vor den Nazi-Opfern verbeugen. Der Künstler verlegte vor 25 Jahren die ersten Platten, mittlerweile liegen 92.000 Stolpersteine in 29 Ländern - so Demnig auf Nachfrage. Sein dezentrales Mahnmal ist das größte Gesamtkunstwerk und Mahnmal der Welt.

Foto:
(Nachbearbeitung) Hanswerner Kruse
Ilse Wolf mit den drei Kindern Gerhard (mitte), Renate und Peter um 1930 in Schlüchtern
Max Wolf Mitte der 1930er-Jahre in England 


INFO:
Die im Text verwendeten Infos sowie die meisten Fotos sind dem akribisch recherchierten, leider vergriffenen Buch der Historikerin Christine Wittrock entnommen: „Saubere Geschäfte, weiße Westen und Persilscheine“ (Hanau 2002).

Weitere Texte des Autors im Weltexpresso zu Stolpersteinen in Schlüchtern