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Kategorie: Zeitgeschehen
Bildschirmfoto 2022 11 02 um 00.05.25Binyamin Netanyahu kann sich Hoffnungen machen

Jacques Ungar

Tel Aviv (Weltexpresso) - Nach den drei wichtigsten Hochrechnungen vom Dienstagabend hat Likud- und Oppositionschef Binyamin Netanyahu 61 oder 62 Mandate (laut einer Nachzählung allerdings nur deren 60) erhalten, jedenfalls genug, um mit der knappsten aller Mehrheiten von Staatspräsident Isaac Herzog als erster Abgeordneter den Auftrag zu erhalten, eine Regierung zu bilden. Daran kann sich bei diesen knappen Verhältnissen und verschwindend kleinen Unterschieden in den nächsten Stunden und Tagen noch so manches ändern.

Die Wahlbeteiligung war mit über 62 Prozent so hoch wie schon lange nicht mehr, was wohl den Wunsch des israelischen Volkes zum Ausdruck bringt, endlich einmal während einer vollen Kadenz von vier Jahren von vorgezogenen Wahlen verschont zu bleiben. Das Land hat diese Periode zur Stabilisierung und Ausbau seines Sicherhetsapparates weidlich verdient. Erwähnenswert wäre noch der unfreiwillige Abschied der Noch-Innenministerin Ayelet Shaked aus der Regierung, während Meretz (5), Israel Beiteinu (Lieberman, 4) und die Israelische Arbeitspartei (4) es gerade noch schafften. Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir waren mit den 14 Sitzen für ihre kombinierte Parteien Religiöser Zionismus und Otzma Jehudit (Jüdische Macht) die eigentlichen neuen Sterne am israelischen Parteienhimmel. Wie lange sie leuchten werden und ob vor allem der eingeschworene Palästinenserfeind Ben-Gvir in der israelischen Politik werden mitmischen können, ist allerdings eine ganz andere Frage.

Machen wir uns aber nichts vor: Eine Regierung, basierend auf der Mehrheit von einer oder zwei Stimmen wäre für Netanyahu auf die Dauer und das Volk unerträglich, würde der präsumptive alt-neue Regierungschef sich auf diese Weise doch praktisch täglich den finanziellen und jobmässigen Druckversuchen aus der Regierungsrunde ausgesetzt sehen. Und das ist ja genau das, was Israel am wenigsten gebrauchen kann. Bis zur endgültigen Bildung einer tragfähigen Regierung in Jerusalem können jedenfalls noch Monate vergehen. Die arabischen Parteien erlitten eine schmerzvolle Abfuhr, und ihr Versuch, am israelischen Polit-Leben teilzuhaben, dürfte zunächst begraben sein.

Ein bekannter Kommentator meinte nach Bekanntwerden der Hochrechnungen: «Ich war schon immer ein Pessimist; keine noch so schlechte Nachricht hat mich unvorbereitet getroffen.«

Foto:
Erste Hochrechnungen geben Indizien und offenbaren Szenarien
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 1. November 2022