
Thorsten Latzel
Rheinland (Weltexpresso) - „Schaffe mir Recht, Gott, und führe meine Sache wider das treulose Volk.“ (Ps. 43,1)
So lautet der Leitvers aus Psalm 43, nach dem der Sonntag Judica seinen Namen hat. „Schaffe Recht, Gott!“: Wir leben in einer Zeit, in der wir international wie national Formen des Rechtsbruchs erleben, wie wir es lange nicht für möglich gehalten haben.
- Es herrscht Krieg in der Ukraine, in Gaza, im Sudan, auf Haiti und in vielen anderen Ländern.
- Ganzen Staaten wie Grönland oder Kanada wird willkürlich das Existenzrecht abgesprochen.
- Demokratisch gewählte Amtsträger werden in der Türkei inhaftiert.
- Mehr als 120 Millionen Menschen waren 2024 weltweit auf der Flucht und allzu oft ohne Recht.
- Von Willkür, Korruption oder Gewalt gegenüber Minderheiten ganz zu schweigen.
„Schaffe Recht, Gott“ – es ist an der Zeit, höchste Zeit!
Die Passionsgeschichte, wie Johannes sie erzählt, handelt genau davon: vom Rechtbrechen und Rechtschaffen. Sie handelt von einem äußeren Gerichtsprozess: von religiösen und politischen Amtsträgern, die vermeintlich Recht sprechen und dabei bewusst einen Unschuldigen ans Kreuz schlagen. Und von einem inneren Gerichtsprozess: von Gott, der im Sterben und Auferstehen Jesu Christi uns Menschen Recht verschafft und selbst an die Seite aller Leidenden tritt. Die Passion, sie ist der Höhepunkt des Konflikts von Welt und Christus, von einer Weltlogik und einer Christushaltung, die das ganze Evangelium durchzieht.
Ein Drama, wie es selbst auf Netflix seinesgleichen sucht. Angefüllt mit den verschiedensten Charakteren:
- Korrupte religiöse Eliten wie die Hohepriester Hannas und Kaiphas, die in ihrer Männerseilschaft Pläne schmieden und einen Menschen eiskalt opfern, um ihre Macht zu erhalten. Eine Haltung, die wir auch von sexualisierter Gewalt in unserer Kirche kennen.
- Judas, der Jesus ausliefert, weil – so schildert es Johannes – der Satan in ihn gefahren sei. Ob er vielleicht andere Motive hatte? Wir wissen es nicht.
- Eine aufgewiegelte Menge, die eben noch „Hosianna“ gerufen hat und jetzt „Kreuzige ihn!“ brüllt.
- Ein römischer Statthalter, Pontius Pilatus, der immer wieder, insgesamt siebenmal, zwischen dem Mob draußen und dem gefesselten Christus drinnen hin- und herläuft. Der vergeblich versucht, seine Hände irgendwie sauber zu behalten, in Unschuld zu waschen – doch das Blut klebt an ihnen, bis heute in unserem Glaubensbekenntnis. Was von ihm bleibt, sind kleine Sätze: „Was ist Wahrheit?“ Sein hilfloser Versuch, sich durch abstraktes Philosophieren der eigenen Verantwortung zu entziehen. Er sucht „Wahrheit“ – griech. a-letheia, wörtlich das nicht Verborgene. Und erkennt doch nicht die menschgewordene Wahrheit, die vor ihm steht. Und der Satz: „Seht, was für ein Mensch!“ „Ecce, homo.“ So viel zumindest erkennt er: das urmenschliche Leiden in diesem einen Menschen. Dabei wäre die Wahrheit so einfach: Man tötet keine Unschuldigen.
Ich möchte auf eine Schlüsselperson dieses Dramas fokussieren. Eine Person, die diesen Rechtsbruch hautnah miterlebt: auf Petrus, den Klassensprecher und Teamführer des Jüngerkreises. Als Protestant/innen haben wir es zumeist nicht so mit Petrus. Paulus liegt uns in der Regel mehr: mit seiner Rechtfertigungslehre. Mit seinen theologisch klugen Briefen. Mit seiner klaren ethischen Haltung. Doch interessanterweise haben wir auf vielen unseren Kirchendächern gerade einen Hahn. Der Hahn war früher auch eine kleine Spitze gegen das Papstamt. Er ist aber vor allem und zuerst eine Mahnung an uns selbst.
Deswegen heute ein protestantisch gelesener Petrus – als geistlicher Wegbegleiter. Petrus gehört zu den ersten Jüngern, die Jesus beruft. Und Jesus weiß wohl, was er tut, als er Fischer, Zöllner, Handwerker beruft, nicht die Schriftgelehrten und die theologische Bildungselite. Jesus – als „Fishermen’s Friend“. Petrus ist so etwas wie der große Bruder unter den Jüngern. Immer an Jesu Seite – und vor allem: immer auf seiner Seite. Er versucht es 150-prozentig richtig zu machen und liegt dabei regelmäßig zielsicher knapp daneben.
Als Jesus nachts über den See zu den Jüngern kommt, holt Petrus sich mehr als nur nasse Füße, als er aus dem Boot heraustritt, Jesus entgegen. Doch – er versucht es zumindest. Auf dem Berg der Verklärung möchte er am liebsten Hütten bauen, um den Moment religiöser Ekstase auf ewig zu bewahren: „Verweile doch, du bist so schön.“ Eben noch bekennt er stellvertretend für alle Jünger: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Doch schon im nächsten Atemzug versucht er – eben ganz großer Bruder –, Jesus von seinem Leiden abzuhalten. Die Füße will er sich nicht von Jesus waschen lassen. Das sei ferne! Doch als er begreift, wie wichtig es ist, will er gleich den ganzen Körper gewaschen haben. Im Garten Gethsemane, als es ernst wird und Jesus versucht wird, schläft er wie die anderen ein. Petrus: Er ist ein wehender Fels im Wind. Ein Bekenner und Irrgänger. Ein Macher und Schwacher. Ein Fischer, der zum Hirten wird – doch dies erst nach der Nacht des Verrats.
Als die Soldaten und Häscher kommen, um Jesus gefangen zu nehmen, schlägt er noch einem der Knechte das Ohr ab. Nicht die feine Christenart. Er schleicht hinter dem gefangenen Jesus her, hinein in den Palast des Hohepriesters. Steht draußen vor der Tür, als Christus drinnen verhört und geschlagen wird. Dreimal wird er gefragt: „Du bist doch auch dabei gewesen. Einer von denen, die diesem Jesus nachgefolgt sind.“ Dreimal verleugnet er den leidenden Jesus in jener Nacht. Bis der Hahn kräht. Dreimal wird der auferstandene Christus ihn später fragen: „Hast du mich lieb?“ Und ihn dann mit der Sorge für seine Schafe betrauen.
Wie man später die Nachfolger Petri mit Unfehlbarkeit in Verbindung bringen konnte, bleibt mir ein Rätsel. Was ihn auszeichnet, ist gerade seine zutiefst menschliche Fehlbarkeit. Und wie Christus ihn darin immer wieder auffängt und bewahrt. Als Gemeinden feiern wir – zumindest in manchen Kirchen – unter einem Hahn Gottesdienst. Er kann uns an die Nacht des Verrats erinnern und an Petrus als einen unserer geistlichen Wegbegleiter, gerade in Zeiten des Rechtsbruchs.
Als Christinnen und Christen versuchen wir, Christus nachzufolgen. Verantwortlich zu handeln. Fröhlich zu glauben. Ehrlich zu sein. Liebe zu leben. Und doch scheitern wir immer wieder dabei. So wie es Petrus getan hat. Tag für Tag. Petrus als erster von Christus gleichsam ordinierter Pastor stolpert vor uns her. Wir scheitern immer wieder daran: wenn wir Leidende in ihrer Not alleinlassen. Wenn wir reden, wo wir schweigen sollten, und schweigen, wenn das Recht anderer gebrochen wird. Wenn uns unser Amt und Ansehen wichtiger sind als die Menschen, die uns anvertraut sind. Wenn wir mit der Art, wie wir leben, Christus verleugnen.
Doch genau dann, wenn mir oder Ihnen dies geschieht, ist es wichtig, dieses Scheitern anzunehmen, vor Gott zu bringen und darin Gott die Ehre zu geben. Wir sind wie Petrus Bekennerinnen und Irrgänger, Macher und Schwache, Felsen im Wind. Doch nicht wir haben Christus erwählt, sondern Christus hat uns erwählt und dazu bestimmt, dass wir hingehen und Frucht bringen. Gott schreibt auch auf krummen Linien die schönsten Geschichten. Deswegen: Scheitern Sie tapfer in Ihrem Leben. Doch glauben Sie tapferer. Seien Sie als Petra und Petrus Menschenfischer/innen. Halten Sie Ausschau nach den Fischerinnen, Handwerkern und Zöllnern an Ihrem Weg. Und lassen Sie uns so in unserer erlösten Unvollkommenheit zur Hirtin und zum Hirten für andere werden.
Solch eine urchristliche Fehlerkultur kann Glaube, Hoffnung, Liebe stiften – gerade jetzt. Wir sind keine Heldinnen – wir können die Welt nicht retten – wir wissen nicht alles besser. Das ist Gottes Sache. Und wir sollten uns auch davor hüten, das von anderen zu erwarten. Ich bin nicht besser als meine Nachbarn, egal, wo sie das Kreuz bei der Wahl gesetzt haben, egal, wie seltsam ich ihre Ansichten oder Lebensweise finde. Wir sind alle Heilige mit schiefem Schein, Teil einer zutiefst fehlbaren Kirche. Christus allein ist die Wahrheit, die wir bekennen. Ihm stolpern wir gemeinsam nach. Und das sollten wir gemeinsam tun: bescheiden im Blick auf uns selbst – liebevoll im Umgang mit unseren Mitmenschen – leidenschaftlich für Gottes Reich und das Recht aller Leidenden.
Foto:
©Hans-Georg Vorndran/fundus-medien.de
Info:
Weitere Texte: www.glauben-denken.de
Als Bücher: www.bod.de
Kontakt: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Wenn Sie unseren Newsletter nicht mehr beziehen möchten, können Sie ihn hier abbestellen.