kleinedingSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. April 2024, Teil 3

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - Was hat Sie an diesem Projekt angesprochen?

MICHEL BLANC: Das Drehbuch gefiel mir, aber in erster Linie interessierte mich die Figur, denn durch diesen gleichzeitig unangenehmen wie herzerweichenden Mann entdeckte ich die Problematik des
Analphabetismus. Bevor ich in seine Geschichte eintauchte, wusste ich nicht, wie sehr dieses Handikap das Leben der Betroffenen erschweren kann. Für mich bestand der Grund für den Film darin, zu zeigen, wie ein Mann in meinem Alter so viele Jahre lang leben und arbeiten konnte, ohne lesen und schreiben zu können. Im Film erfahren wir, dass Émile es seinem Bruder zu verdanken hatte, so durchs Leben gekommen zu sein, weil sein Bruder alles für ihn getan hat.

Kennen Sie Menschen, die Analphabeten sind?

MICHEL BLANC: Ich hatte Gelegenheit, einige von ihnen zu treffen, und sie erzählten mir, was für eine Hölle es ist, nicht lesen und schreiben zu können. Ein Mann erzählte mir, dass ihn dieser Umstand so sehr gehemmt hatte, dass er sein ganzes Leben lang Single geblieben war. Wie meine Figur war er nie in der Lage gewesen, zu lesen oder allein einen Liebesbrief zu beantworten. Bei allen Analphabeten, die ich kennenlernte, spürte ich das gleiche Gefühl des Eingesperrtseins und ich habe verstanden, dass es sich im Gegensatz zu Gehörlosen oder Blinden nicht um eine angeborene, sondern um eine erworbene Behinderung handelt, die zu größerer Scham führt. Dennoch bleiben sie Opfer. Glücklicherweise erhielten alle, wie Émile, die späte Gelegenheit, lesen zu lernen. Meine Großtante,
die aus Geldmangel nicht zur Schule gehen konnte und sehr jung als Haushälterin in eine große Familie in Bag Meil kam, nutzte, ganz ihrem bretonischen Willen entsprechend, die Anwesenheit des
Hauslehrers der Familie, um über die Schulter der Kinder hinweg lesen und schreiben zu lernen. Ich habe sie nicht gekannt, aber ihre kleine Sammlung von Rezepten, die ich geerbt habe, ist in dieser
Hinsicht wertvoll.


Sie sind einer der Meister der französischen Komödie. Ist es auch der Ton des Films, der Sie angesprochen hat?

MICHEL BLANC: Das ist in der Tat das zweite Argument, das mir an diesem Projekt gefallen hat. Die Themen Analphabetismus, Verödung der Dörfer und ein ländlicher Raum ohne Geschäfte und Ärzte
hätten ein Drama ergeben können. Mélanie Auffret hat sich jedoch dafür entschieden, daraus eine optimistische und zugleich sehr lustige Komödie zu machen. Um ein Gegengewicht zur tiefen und
harten Seite der Realität des Analphabetismus zu schaffen, erleben wir den Fallschirmabsprung eines reifen Mannes in eine Klasse von Kindern zwischen sechs und neun Jahren, die im Lesenlernen zum
Großteil weiter fortgeschritten sind als er. Dieser Kontrast ist zwangsläufig eine Quelle der Komik. Außerdem hat mir das Zusammenspiel mit den Kindern großes Vergnügen bereitet.


Hatten Sie nicht auch ein wenig Angst davor?

MICHEL BLANC: Doch, sehr sogar. Aber in gewisser Weise ist es immer ein gutes Zeichen, ein wenig Angst zu haben, denn es zeigt, dass etwas auf dem Spiel steht, und das ist schließlich spannend. Kinder sind Naturtalente. Sie zwingen einen, aus seiner eigenen Komfortzone herauszukommen, und man lernt, sich anzupassen, denn um die Figur mit der größtmöglichen Wahrhaftigkeit darzustellen, muss  man auch die Wahrheit des Kindes berücksichtigen. Ich habe zwar keine eigenen Kinder, aber am Set habe ich mich sehr an sie gewöhnt. Ich mochte sie alle und wollte auf keinen Fall den Eindruck
erwecken, ich hätte Lieblinge. Aber ich gebe zu, dass sich zu einigen spontan eine Verbindung entwickelt hat.

Bedeutet Schauspieler sein, dass man sich einen Teil seiner Kindheit bewahrt?

MICHEL BLANC: Nicht unbedingt. Jeder Schauspieler hat seine eigene Wahrheit und für mich ist das Schauspielen eine Kunst und ein Beruf. Ich spiele nicht im kindlichen Sinne nach dem Motto: „Es sieht
so aus, als wärst du der Gendarm und ich der Dieb", sondern um den Eindruck zu erwecken, jemand anderes zu sein, und zwar mit der größtmöglichen Aufrichtigkeit. Das ist nicht von der Hand zu weisen
und wird von den großen Schauspielern, die ich bewundere, auch so gemacht.


Wie haben Sie Julia Piaton in der Zusammenarbeit erlebt?

MICHEL BLANC: Sie ist eine Schauspielerin, die mit einer sehr großen Aufrichtigkeit spielt. Sie ist sehr reflektiert, d. h. sie stellt sich die richtigen Fragen und kanalisiert ihre Instinkte durch Nachdenken. Das
macht die Arbeit mit ihr leicht und angenehm.


Und wie arbeiten Sie?

MICHEL BLANC: Ich versuche, meine Figur aus den Dingen aufzubauen, die mich glauben lassen, dass ich dieser Mann sein kann. Das bedeutet, dass ich mich wochenlang jeden Tag im Voraus auf die Rollen vorbereiten muss, um dann, während der Drehzeit mit dem Team, jede Szene genau richtig wiederholen zu können.


Durch was zeichnet sich Mélanie Auffret aus?

MICHEL BLANC: Mélanie ist leidenschaftlich und intensiv. Mélanie hat so viel Kraft in diesen Film gelegt, dass man das Gefühl hatte, dass es für sie lebenswichtig war, diese Geschichte zu erzählen. Sie arbeitete wie eine Verrückte, denn sie machte nicht nur ihren Job als Regisseurin mit der Crew und  Schauspielern, sondern bereitete auch die Kinder vor, von denen die meisten noch nie geschauspielert
hatten. Sie zeigte ein Engagement, wie ich das selten zuvor gesehen hatte.