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Kategorie: Bücher

KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für März 2016, Teil 1

 

Elisabeth Römer

 

Hamburg (Weltexpresso) – Es gilt ein schweres Versäumnis nachzuholen. Garry Disher, der diesmal auf Anhieb Platz 1 einnimmt, ist schon seit längerem Verlagsautor des so rührigen Unionsverlags aus der Schweiz. Nein, BITTER WASH ROAD, das konnten wir noch nicht kennen, aber wir haben nicht mitbekommen, daß der uns durch Pulp Master so bekannte und auch beliebte Schreiber inzwischen sechs Romane mit Inspector Hal Challis veröffentlicht.

 

Wir werden sicher die alten nachlesen, aber Garry Disher schafft es immer, einen voraussetzungslos in die Geschichte hineinzuziehen. Tobias Gohlis, Chef der Jury, schreibt dazu: feine Gesellschaftsbeschreibungen, in die das Kriminelle organisch eingewoben ist. Die Challis-Romane spielen auf der Halbinsel Mornington südöstlich von Melbourne, wo Disher wohnt. Mit Bitter Wash Road hat er sich einen Traum erfüllt: Sein neuer Held Paul „Hirsch“ Hirschhausen – dem weitere Romane beschieden sein sollen – ist in die von Weizen, Wolle und geschlossenen Kupferminen geprägte Gegend in South Australia nördlich von Adelaide versetzt worden, wo Disher aufgewachsen ist und ein Teil seiner Familie immer noch lebt.

 

Diese Landschaft und die in ihr ums Dasein kämpfenden verstreuten Menschen sind die Hauptdarsteller in Bitter Wash Road. Es ist eine zugleich deprimierende und doch auch ermutigende Geschichte um den Tod eines jungen Mädchens, lokale und überregionale Polizeigewalt und –korruption, die Hirsch widerfährt, erzählt in einem ruhigen, genau die Abtönungen der Schatten beobachtenden Ton, von dem sich viele, viele Autoren eine Scheibe ablauschen sollten, könnten sie es denn. Kriminalliteratur vom feinsten: leise, genau, analytisch, „mit ernüchterter Zuneigung“ (Hannes Hintermeier) zu den menschlichen Wirrungen, die Disher beschreibt.

 

Seinen zweiten Platz gehalten hat Ryan Gattis IN DEN STRASSEN DIE WUT: Ein Roman, der uns unter die Haut ging. Vielleicht ist es sinnvoll, zum Hintergrund noch etwas zu erklären. Es ist nämlichn der 1978 geborene und aus Colorade stammende Gattis ein Mitglied des Uglar Collective, einer 2008 gegründeten Gruppe von Straßenkünstlern. Uglar steht für „Unified Group of Los Angeles Resistance“. Die Uglar-Mitglieder verstehen sich als die Geschichtenerzähler ihrer Stadt, und zwar von Geschichten, die nur gezeichnet werden können, auf Wände. Gattis wird von ihnen als „master“ angesehen.Während seiner Graffiti-Arbeit gewann Gattis im Gespräch über Gewalt und Verletzungen mit einem Latino-Gangster dessen Vertrauen. Auf dessen Informationen und weiteren, zwei Jahre lang recherchierten Erlebnisberichten von insgesamt 17 einzelnen Figuren beruht Gattis‘ Roman In den Straßen die Wut. Er selbst nennt sein Verfahren sourced fiction – quellenbasiertes Erzählen.

In den Straßen die Wut ist darum eher Dokufiction als Thriller. Die subjektive Erzählweise verhindert die Entstehung einer durchgehenden schlüssigen Kriminal-Handlung. Das ist aber ehrlicher und weniger patriarchalisch als etwa die jüngeren Romane Walter Mosleys, in denen ein alter erfahrener Ex-Gangster versucht, die wilden Jungen auf einen geraderen Weg weg von den Waffen zu bringen. Gattis gibt ihnen Stimme und Würde.“, sagt dazu Tobias Gohlis.

 

Uns hat etwas anderes fasziniert, obwohl, wenn wir den letzten Satz uns noch einmal durchlesen, ist es vielleicht gerade das: Stimme und Würde, aber auch ein tiefes Interessen für den Menschen, der hier von den blutigen sechs Tagen berichtet, die am 29. April 1992 um 20:14 Uhr mit dem Bericht von Ernesto Vera beginnen, der am Ende des Kapitels tot ist – ungerecht und völlig unnötig, weil er keinem etwas zuleide getan hat.

 

Wir lernen seine Geschwister genauso kennen, wie die Hintergründe, wobei einen die Personen eben unterschiedlich faszinieren. So ging es uns mit Lupe Vera, alias Lupe Rodriguez, alias Lu, alias Payasa, die sich direkt in unser Gemüt hineinschreibt. Wir wollen von den vielen Personen, die kalendarisch die Ereignisse aus ihrer jeweiligen Sicht beschreiben, jetzt nicht weitere hervortun, da es viel interessanter ist, ob es ihnen genauso geht, daß sie bei manchen Personen schlicht schneller lesen, ins Blättern kommen und andere dann wieder jede Zeile wichtig wird. Nie geht es um die Handlung, also eine Auflösung einer klassischen Detektivgeschichte, aber wir hätten vorher nicht geglaubt, wieviel uns dieses Buch gibt, dessen Anfang DIE FAKTEN heißt und die den Hintergrund bilden für die Gewalt, die aufgrund von Gerichtsurteilen entsteht.

 

Den dritten Platz nimmt ebenfalls mit Durchmarsch ENDGÜLTIG von Andreas Pflüger aus dem Suhrkamp Verlag ein. Dieses Roman konnten wir noch nicht lesen und entweder kommt eine weitere Fassung der KrimiBestenListe während des Monats oder erst im April, wenn er sich hält, wovon wir ausgehen. Fortsetzung folgt

 

 

Die KrimiZEIT-Bestenliste März 2016

 

 

 

 

Lfd.

Nr.

Rang

Vor-monat

Titel

1

1

(-)

Garry Disher: Bitter Wash Road

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Unionsverlag, 352 S., 21,95 €

Tiverton, Südaustralien. Paul „Hirsch“ Hirschhausen ist degradiert, auf einen Ein-Mann-Posten versetzt. Eine Sechzehnjährige wurde totgefahren. Hirsch (fast) allein gegen Sheriff, Vorgesetzte, Dorfbonzen. Weizen, Wolle, früher Kupfer, leeres Land. Ganz, ganz fein, staubtrocken und herzenswarm.

2

2

(2)

Ryan Gattis: In den Straßen die Wut

Aus dem Englischen von Ingo Herzke

Rowohlt Polaris, 528 S., 16,99 €

Los Angeles 1992. Aufruhr. Stadt ohne Staat. Hier: Feuerwehr, Nationalgarde, Killercops. Dort: Latino-Gangs. Kids als Mobster. Im Tumult Blutrechnungen begleichen. Ernesto, Bruder, guter Mann totgeschleift. Unterm Qualm rennen, schießen sie: Trauer, Fluchtversuche, Machokampf. 6 Tage Wahnsinn. Unbelievable.

3

3

(-)

Andreas Pflüger: Endgültig

Suhrkamp, 459 S., 19,95 €

Barcelona, Moskau, Berlin. In Barcelona wird Spezialagentin Jenny Aaron angeschossen. Verrat, Mord, Bosheit. Jahre danach: Die erblindete BKA-Profilerin stößt erneut auf den Widersacher ihre Lebens. Perfekter, intelligenter Showdown über 48 Stunden. Pflüger kann Action und mehr, so unique in D.

4

4

(-)

Ross Thomas: Porkchoppers

Aus dem Englischen von Jochen Stremmel

Alexander, 310 S., 14,90 €

Chicago, Washington D.C. Gewerkschaftswahlen: Spielfeld für gewitzte Absahner. Ross Thomas, der wusste, wie man’s macht, mixt einen Mordplan, eine gekaufte Wahl, eine Medienintrige, eine traurige Vater-Sohn-Geschichte und das Porträt eines charmanten Säufers. Erstmals vollständig auf Deutsch.

4

5

(1)

Malla Nunn: Tal des Schweigens

Aus dem Englischen von Laudan & Szelinski

Ariadne im Argument-Verlag, 318 S., 13,00 €

Drakensberge, Südafrika 1953. DS Cooper und DC Shabalala sollen den Mord an einer schwarzen Land-Schönheit aufklären – die Arschkarte für Kriminalisten im Apartheid-Staat. Fallstricke überall: Zulu-Traditionen, Rassisten-Traditionen, Frauenunterdrückung sowieso. Behutsam, fein und klug: Nunn.

6

6

(-)

Cormac McCarthy: Der Feldhüter

Aus dem Amerikanischen (sic!) von Nikolaus Stingl

Rowohlt, 288 S., 14,99 €

Knoxville, Tennessee. McCarthys Debüt: Ein Junge, ein Schnapsschmuggler und ein alter Knorz ziehen ihren Weg. Ohne es zu wissen, verbunden durch einen Toten. Drei Männer, Teil der Natur, fern von Zivilisation und law, unterworfen kosmischem Gesetz. Dabei: eine Katze, ein Hund, ein Habicht.

7

7

(3)

Tito Topin: Exodus aus Libyen

Aus dem Französischen von Katharina Grän

Distel Literaturverlag, 233 S., 14,80 €

Libyen 2011. Acht Menschen fliehen vor dem Bürgerkrieg, bloß raus. Zwangsstop in einer umkämpften Wüstenstadt. Jetzt müssen sie sich ihrer persönlichen Wahrheit stellen. Was hat Gaddafis „Verderbtheit“ aus ihnen gemacht? Wie frei können sie werden? Der erste Kriminalroman der „Arabellion“.

8

8

(-)

Michael Robotham: Der Schlafmacher

Aus dem Englischen von Kristian Lutze

Goldmann, 414 S., 14,99 €

Bath, Somerset. Psychiater Joe O’Loughlin zerrissen zwischen Sorge um seine krebskranke Frau, seine Töchter und um den Fall: Wo Harper Crow und ihre Mutter ermordet wurden, gibt es mehr Spuren als nötig – ein oder zwei Serienkiller? Folgt nicht dem Geld, spürt nach Familiengeheimnissen.

9

9

(-)

 

Eugene McCabe: Die Welt ist immer noch schön

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

Steidl, 136 S., 16,00 €

Fermanagh 1975. Doppelte Belagerung: Fünf IRA-Provisionals besetzen das Haus des britischen Colonels Armstrong, um IRA-Gefangene freizupressen, belagert von der Army. Harter Roman über das Sterben. Über Hass, Ideologie, Verrat und innere Verwirrung. Späte Entdeckung eines Juwels.

10

10

(9)

 

Joseph Kanon: Leaving Berlin

Aus dem Englischen von Elfriede Peschel

C. Bertelsmann, 448 S., 19,99 €

Ost-Berlin 1949. Exil-Schriftsteller Alex Meier soll in CIA-Auftrag Kulturbund und Kommunisten bespitzeln. Atmosphärisch genau rekonstruiert: ein Mann im Kalten Krieg mit eigener Agenda zwischen den Stühlen. Cameos: Brecht, Weigel, Janka, andere Kulturgrößen. Clever und ideologieresistent.

 

 

 

INFO:

 

Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.

 

Vorgestellt wird die KrimiZeit-JahresBestenListe

 

Die KrimiZEIT-Bestenliste März wird am 3.3.2016 in der Wochenzeitung DIE ZEIT, auf ZEITonline unter www.zeit.de/krimizeit-bestenliste und im Nordwestradio veröffentlicht, am Donnerstag, den 3.3.2016 gegen 9.20 live mit Tobias Gohlis und in den Sendungen der „Buchpiloten“, nachzuhören unter www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/bestenliste100.html

 

 

Monatlich wählen einundzwanzig auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt inzwischen über 1800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.

 

 

Die Jury der KrimiZEIT-Bestenliste auf dem aktuellen Stand:

 

Tobias Gohlis, Kolumnist DIE ZEIT, DeKrPr*, Moderator und Jury- Sprecher der Krimiwelt

Volker Albers, Hamburger Abendblatt, DeKrPr*

Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR, DeKrPr*

Gunter Blank, Sonntagszeitung Zürich

Thekla Dannenberg, Perlentaucher

Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung

Michaela Grom, SWR

Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung

Lore Kleinert, Radio Bremen 

Elmar Krekeler, Die Welt

Kolja Mensing, Dradio Kultur

Ulrich Noller, Deutsche Welle, WDR, DeKrPr*

Jan Christian Schmidt, www.Kaliber 38.de, DeKrPr*

Margarete v. Schwarzkopf, Freie Literaturkritikerin

Ingeborg Sperl, Der Standard - Wien

Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau, DeKrPr*

Jochen Vogt, NRZ, WAZ

Hendrik Werner, Weser-Kurier

Thomas Wörtche, Plärrer, culturmag, Dradio Kultur, Penser Pulp bei Diaphanes, DeKrPr*

 

In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie in der RUBRIK BÜCHER auf dem Titel oder unter dem Autorennamen im Archiv finden.

Das Prozedere der Platzverteilung für die Liste ist ganz einfach. Dreimal darf ein Kritiker aus der Jury einen Roman benennen. Wenn das gut verteilt ist, kann ein Buch einige Monate überwintern, dann hat es nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die jeweils Ende Dezember herauskommt und die wir für 2015 hier ebenfalls kommentierten.

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6227:die-jahresbestenliste&catid=78:buecher&Itemid=470

 

http://weltexpresso.tj87.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6228:vier-der-besten-haben-frauen-geschrieben&catid=78:buecher&Itemid=470