Weinstock erwähnt in diesem Zusammenhang einige bedeutende „Orientalen“ wie den Rabbiner Yehuda Alkalai aus Sarajewo (1798-1878), der ein früher Vorläufer des modernen politischen Zionismus war. Alkalai war wohl ein aus der iberischen Halbinsel stammender Sepharde wie die meisten Juden in Bosnien und Herzegowina, die nach der Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal im osmanischen Reich Aufnahme fanden und in Marokko die stärkste jüdische Gruppe bildeten. Alkalai war somit kein aus dem arabischen Orient kommende Misrachi, aber das differenziert Weinstock nicht, dessen Frau eine Sephardin ist, die, wie er meint, ihm die Welt der Orientalen nahegebracht hat. Dabei wird heute sehr genau unter den kulturell und sprachlich so differierenden Gruppen der Misrachim und Sephardim unterschieden. Weinstock erinnert auch an die nebst der in der israelischen Geschichtsschreibung gefeierten ersten osteuropäischen Einwanderer im Jahre 1882 auch an die gleichzeitig eingewanderten, jedoch völlig übergangenen und vergessenen mehreren Hundert zionistischer Juden aus dem Jemen. 
                                                                                                                                           
Weinstock, früher ein rabiater Antizionist, der sich inzwischen von seinen früheren ausfälligen Schriften distanziert hat, ist von der wichtigen Rolle überzeugt, welche die Misrachim bei der Entstehung des Staates Israel gespielt haben und argumentiert gegen die diesbezügliche „Variante eines Negationismus, mit dem wir es hier zu tun haben: das heißt mit einer Wahrheit, die man sich weigert, zur Kenntnis zu nehmen.“ (S. 16) Diese ist nun in Israel selbst inzwischen überwunden, doch die übrige Welt muss immer noch gezwungen werden, sie anzuerkennen.    
                                                                                                     
Weinstock diagnostiziert in den arabischen Staaten eine Leere, die dort herrscht, nachdem mehr als 99,5% ihrer jüdischen Bewohner ins Exil gezwungen wurden. Der Weggang dieser Juden, der Autochtonen, die in den arabisch-islamischen Ländern zweitausend Jahre lang lebten, viele Jahrhunderte vor der Entstehung des Islam, ist für den Autor der „Indikator eines von Angst geprägten, erstickenden Klimas.“ Wie Bensoussan greift Weinstock weit zurück in die Geschichte der Juden unter den islamischen Herrschern, wobei er ebenfalls ausführlicher als jener den Maghreb, Syrien, Libanon, den Irak, Jemen, Aden und Ägypten behandelt. Zusätzlich erweitert Weinstock das Spektrum um die Darstellung der Lage der Juden in der Türkei und dem Iran, dem er in diesem Zusammenhang das weitgehend unbekannte Kapitel über die Juden in Afghanistan hinzugefügt hat, „da dieses Thema aufgrund der Ursprungs der betreffenden Gemeinschaften gewissermaßen zum Studium des persischen Judentums gehört.“

Die jüdische Präsenz in Afghanistan, vor allem in der Stadt Balkh, geht bis in das 8. Jahrhundert zurück, allerdings sind bis zum 19. Jahrhundert die Dokumente spärlich. In den Jahren 1839-40 flohen persische Juden aus der Stadt Maschhad nach Afghanistan, um Zwangsbekehrungen zu entkommen und ließen sich in Herat nieder. Sie handelten vor allem mit Teppichen und Pelzen, Baumwolltextilien und Antiquitäten. Sie mussten anders als die Afghanen einen schwarzen Turban tragen und sprachen die jüdisch-persischen Idiome. Der im Jahre 1929 inthronisierte König Mahammed Nadir Schah führte eine Reihe nationalistischer Maßnahmen ein, die die im Lande ansässigen Minderheiten wie Juden, Hindus, Usbeken und Turkmenen ihrer bisherigen Rechte und der Staatsbürgerschaft beraubt haben, woraufhin sich die von Pogromen bedrohten Juden in eingemauerte Ghettos flüchteten. Zwischen 1935 und 1944 gab es blutige Überfälle der Schiiten auf die Juden, Vergewaltigungen, Zwangsbekehrungen und Kindesentführungen. Juden begannen, in den Iran und nach Indien zu fliehen. 1948 lebten dort noch 5000 Juden, die bis 1951 das Land nicht verlassen durften. Danach emigrierten 4000 afghanische Juden nach Israel, die restlichen wurden weiter drangsaliert, nach dem Sechstagekrieg waren noch 300 Juden im Land, die allerdings bis zur Machtergreifung durch die Taliban ausreisen konnten. Jetzt lebt nur ein einziger Jude in Kabul und eine Handvoll jüdischer Familien in Herat. Das Land ist praktisch „judenfrei“.

                                                                                                                                                
Wie anderswo unter den Muslimen, waren die Geschicke der Juden im Osmanischen Reich von der Stärke und Stabilität des Sultanats abhängig. „In dem Maße, wie das Osmanische Reich auf seinen unausweichlichen Niedergang zutreibt, verschlechtert sich die Lage der Juden (und das bereits im 16. und erneut im 18. Jahrhundert), die sich mit immer neuen Schikanen durch Janitscharen und Erlassen – etwa zu Kleidungsvorschriften – auseinandersetzen mussten.  Auch Weinstock hebt immer wieder den Aspekt der Demütigung hervor und weist zu Recht daraufhin, dass auch im Mandatsgebiet Palästina, nachdem sich Juden ihres osmanischen Dhimmistatus entledigt haben, „die Dhimmitude der Kern des Konflikts, ethnischer Natur ist, mit Ressentiments und Dämonisierung des Gegners. Er handelt auch den Komplex „Heiliges Land“ (Israel/Palästina) ab, denn „zum einen ist die jüdische Gemeinschaft auf dem Boden Palästinas eine Konstante seit der frühesten Antike“ und andererseits sei die Problematik der palästinensischen Flüchtlinge auf dem Hintergrund „der konfessionellen und interkommunitären Feindseligkeiten“ im antiken Palästina zu sehen.  Weinstock kann dennoch seine frühere Position offenbar leider nicht ganz ablegen, wenn er von „beiden Völkern“ spricht, dem israelischen und dem palästinensischen, also einem von Yassir Arafat erfundenen Begriff für die Araber der Region. Außerdem nennt Weinstock in seiner umfangreichen Bibliographie zweifelhafte Wissenschaftler wie Ilan Pappe, der wegen Verwendung falscher Dokumente und ebensolcher Geschichtsdarstellung von der liberalen Universität Haifa als Dozent gefeuert wurde.

Weinstocks Buch enthält eine Fülle an Material, es ist spannend geschrieben und bietet sich als Nachschlagewerk an. Wie gesagt, ob das konzise von Bensoussan oder das umfangreiche Werk von Weinstock – beide enthalten Informationen, die insbesondere für diejenigen geeignet sind und zur Lektüre unbedingt empfohlen werden, die Wissenslücken auf dem Gebiet der schwierigen muslimisch-jüdischen Beziehungen in Geschichte und Gegenwart haben.

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Info:
Georges Bensoussan, Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage (Les Juifs du monde arabe. La question interdite 2017), dt. Hentrich & Hentrich 2019

Nathan Weinstock, Der zerrissene Faden. Wie die arabische Welt ihre Juden verlor 1947-1967 (Une si longue présence: Comment le monde arabe a perdu ses juifs, 1947-1967,) dt. ca-ira Verlag 2019