kpm Digitalisierung der Gesellschaftoder Wie digitalisiert man sich richtig?

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Ohne geht nicht“ meinte der Theatermacher Michael Herl in der „Frankfurter Rundschau“ am 19. September und fragte sich, wie die Abgehängten die Digitalisierung schaffen und wie sie sich im Internet verabreden.

Diese Satire entlarvt sehr überzeugend das Schlagwort von der Digitalisierung. Tatsächlich genießt es bei denen einen besonders hohen Rang, die mit dieser Technologie allem Anschein nach überfordert sind oder sich Unerfüllbares von ihr versprechen, Politiker eingeschlossen. Ihnen erscheint sie als Allheilmittel zur Überwindung sämtlicher Defizite. Menschen, die während ihrer Schulzeit zu hoffnungslosen Legasthenikern erzogen wurden, schwören auf das Smartphone, das ihnen den Duden, den Großen Brockhaus und Meyers Konversations-Lexikon per Klick in die bislang ungenutzten grauen Gehirnzellen implantieren könnte - selbstverständlich auf die Wikipedia-Standards reduziert. Doch wer vermag ohne umfassende Allgemeinbildung zu entscheiden, was wichtig und was überholt ist?

Kenntnisse, die man sich bislang nicht aneignen wollte oder konnte, lassen sich durch digitale Medien allein nicht verbessern. Im Gegenteil: Man vergrößert durch ihren Gebrauch sogar den Kreis jener, der einen für nicht bildungsfähig hält. Die quasi aus der Hand geschüttelten und inflationär versandten E-Mails und SMS-Nachrichten machen den Grad der jeweiligen Nichtbildung gnadenlos öffentlich. Ebenso die Handy-Gespräche, die man in öffentlichen Verkehrsmitteln gegen den eigenen Willen mit anhören muss. Zu einer Zeit, als man Mitteilungen handschriftlich, mit der Schreibmaschine oder mit einem professionellen PC-Programm verfasste, fühlte man sich zum Korrekturlesen veranlasst, schließlich wollte man sich nicht blamieren. Heute hingegen scheint die Blamage gesellschaftlich akzeptiert zu sein, weil sie bzw. ihre Ursachen vielfach gar nicht mehr erkannt werden. Es hat sogar den Anschein, dass der dümmste Nutzer der typische Anwender der einfachen digitalen Hilfsmittel ist. Letzteres wäre zu akzeptieren, würde es zu einem Qualifizierungssprung führen. Aber auf einen solchen wartet man vergeblich.

Ähnlich wie Michael Herr fällt auch mir regelmäßig ein bestimmter Mutti-Typ auf, der einen Kinderwagen bei Rot über die Ampel schiebt und in sein Smartphone vertieft ist. Vergleichbares ist von Radfahrern zu berichten, die auf Fußgängerwegen unterwegs sind und rote Ampeln grundsätzlich missachten. Und Autofahrer, die anscheinend mit dem Handy am Ohr geboren wurden, zeigen jenen seltsamen Gesichtsausdruck, der einst als Symptom für gefährliche Krankheiten galt.

Die Irrwege der Digitalisierung manifestieren sich unübersehbar beim Millionenheer jener Elenden, die zu sozialen Bindungen nicht mehr fähig sind und sich auf einer Internet-Peep-Show namens Facebook präsentieren müssen. Diese Gesellschaft der falschen Freunde vereinigt alles, was dringend repariert bzw. vollständig überwunden werden müsste. Digitalisierung allein wird dabei nicht helfen.

Ohnehin führt an den folgenden Binsenweisheiten kein Weg vorbei: Einem Bilanzbuchhalter, der Geschäftsvorfälle nicht in adäquate Buchungssätze umdenken kann, hilft auch die Digitalisierung nicht weiter; denn sie setzt exakt diese Kenntnisse voraus. Einem Anwalt nutzt eine digitale juristische Datenbank überhaupt nichts, wenn er seine Suchanfrage nicht anhand rechtswissenschaftlicher Kategorien formuliert, die er während des Studiums hoffentlich gelernt hat. Ein Programmierer, der einer Maschine Abläufe vorgeben soll, benötigt dazu eine detaillierte Beschreibung des zu automatisierenden Arbeitsprozesses. Fehlt es dieser Darstellung an sprachlicher Exaktheit und logischer Sprachfolge oder mangelt es dem Programmierer an Verständnis für die Elemente dieser Vorgänge, muss die digitale Umsetzung zwangsläufig fehlerhaft sein.

Fazit: Die Digitalisierung setzt die perfekte Beherrschung der traditionellen Kommunikationsformen einschließlich der notwendigen Kulturtechniken (Denken, verstehendes Lesen, folgerichtiges Schreiben) voraus. Auf einem anderen Blatt steht die Errichtung einer technischen Infrastruktur (Kabel, Funk etc.), die zumindest zum Teil auch in die Verantwortung des Staats fällt.

Foto: 
Digitalisierung der Gesellschaft, © ARD