p mdrfriday for future thueringen jena100 resimage v variantBig24x9 w 1024KOMMENTAR in der neuesten Ausgabe der Presse des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) 

Hans-Jürgen Schulke

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Bis vor kurzem schien es hierzulande als sei die Zeit der großen sozialen Bewegungen mehr Nostalgie als Neuerung: Die 68er-Studentenbewegung, Friedens-, Antiatomkraft-, Frauenbewe-gung waren bei runden „Geburtstagen“ noch mal Ort der Erinnerung. Vieles haben sie bewirkt an alternativem gesellschaftlichem Denken, neue Institutionen und Parteien haben sich daraus gebildet. Protestiert wird heute eher punktuell, lokal und parlamentarisch. Insbesondere die jungen Millenials scheinen andere Interessen zu haben, Internet und Gaming bieten neue Möglichkeiten an Kontakten und Kooperationen.

Nun sind sie plötzlich wieder da, die neuen sozialen Bewegungen - Greta sei Dank. Friday for Future öffnet die Augen für Überlebenswichtiges, verbreitet sich rasant über die westlichen Hemisphären, erobert Schlagzeilen und stabilisiert sich in sozialen Medien – Rezo lässt grüßen. Noch ist es eher eine Jugendbewegung, der sich Jugendorganisationen und Schulen anschlie-ßen. Auch die Deutsche Sportjugend ist dabei und einige Sportvereine, konnte doch gerade in Katar der kritische Zusammenhang zwischen Klima und sportlichem Wettkampf besichtigt werden. Derweil erhöht sich das Durchschnittsalter bei den Freitagsdemonstrationen.

In der politischen Soziologie ist man vorsichtiger mit dem Prädikat „Neue soziale Bewegung“. Sind die seit einem Jahr in Frankreich protestierenden „Gelbwesten“ eine Bewegung, war die von Sarah Wagenknecht ausgerufene Initiative „Aufstehen“ nicht bald verschwunden?

Professor Dieter Rucht vom Institut für Protest und Bewegungsforschung in Berlin ordnet das Feld: „Es sind größere, interagierende Gruppen, die – unter ausgeprägtem, oft unkonventionel-lem Protest – einen gesellschaftlichen Zustand in übergreifenden gesellschaftlichen Dimensio-nen verändern wollen. Sie stellen soziale Gebilde aus miteinander vernetzten Personen, Gruppen und Organisationen dar, um mit gemeinsamen Aktionen soziale und politische Verhältnisse zu ändern“.

Rucht betont deren Dauer, die sich vom spontanen Protest abheben: „Bewegungen haben eine kollektive Identität, die Kontinuität sichert, das mit Anspruch auf Gestaltung des sozialen Wandels verknüpft ist, mehr als bloßes Neinsagen“. Sie wollen in gesellschaftliche Praxis nachhaltig hineinwirken. Entsprechend differenziert er alte und neue Bewegungen.

Ein von begeisterten Zuschauern und in den Medien demonstriertes Stück bewegender gesell-schaftlicher Praxis war zuletzt die Turn-Weltmeisterschaft in Stuttgart. Die weltweite Turnbe-wegung feierte ihre Besten, auf Plätzen in Stuttgart konnte das jede*r selbstbewegend probieren. Da das Turnen vor mehr als 200 Jahren in Deutschland begann und hierzulande der Deutsche Turner-Bund fünf Millionen Mitgliedschaften in Stadt und Dorf verzeichnet, organisierten die Veranstalter auch Nachdenkliches. In einem wissenschaftlichen Symposium „Zum zeitgenössi-schen Umgang mit F.L. Jahn“ wurde sich mit dem Gründer der Turn- und Sportbewegung inter-disziplinär auseinandergesetzt, der zu seiner Zeit eine einzigartige Erfolgsgeschichte initiiert hat. Der DOSB stellt heute mit 27 Millionen Mitgliedschaften in rund 90.000 Vereinen die größte zivilgesellschaftliche Organisation. Eine alte und neue soziale Bewegung.

Wie es dazu kommen konnte, wurde historisch (zersplittertes Deutschland, napoleonische Schreckensherrschaft, körperliche Schwäche), philosophisch-politisch (egalitäre Ideen von Jahn und Zeitgenossen), architektonisch (der Turnplatz als für Alle offene, anregende Stätte der Selbstgestaltung), soziologisch (der Verein als neuartige Form des Zusammenlebens und DNA gelebter Demokratie) und schließlich faszinierend museumspädagogisch diskutiert – Jahns Haus in Freyburg wird demnächst aufwendig zur Bildungs- und Begegnungsstätte ausgebaut. Sie kann der Ort werden, in dem sich wie vor 200 Jahren Jahn und seine Weggefährten mit der Zukunft des Zusammenlebens auseinandergesetzt haben: Was ist meine Heimat, meine Kultur, meine Identität in einer globalen Welt? Wie kann ich in der digitalen Kommunikation meine Freiheit und Gleichberechtigung in der Gemeinschaft verwirklichen, wie Gesundheit und Lebensfreude im Sport für mich und andere finden?

Jahns Turnen war auch Protest gegen Unterdrückung von außen und innen. Der wurde von vielen Vereinen vor der Frankfurter Nationalversammlung erneuert. Arbeitersportvereine haben gegen ihr Verbot und Kriegsvorbereitung Ende des 19. Jahrhunderts protestiert. Protest gab es gegen den Boykott der Olympischen Spiele 1976, bei Ausgrenzung jüdischer Sportler 1933 hat er gefehlt.

Die heutige Turn- und Sportbewegung ist nicht mehr durch Protest gegen bedrückende gesell-schaftliche Verhältnisse geprägt, agiert in einer Demokratie, die die Grundrechte der Menschen weitgehend sichert. Dazu hat sie als tradierte soziale Bewegung selbstbewusst beigetragen. Vor allem durch ihre Vereine, die mit Offenheit und Anpassungsfähigkeit neue Herausforderungen annehmen und ideenreich wie partizipativ am Ganzen mitwirken. Auch deswegen zeigen sie sich heute gegen Ausgrenzung sozialer Gruppen immun.

Der DOSB hat es so formuliert: „Sportvereine sind Motor und Ideengeber für Sport und körper-liche Bewegung. Unveränderliche Kennzeichen von Sportvereinen sind das auf Freiwilligkeit beruhende ehrenamtliche Engagement, ihre Gemeinwohlorientierung und demokratische Verfasstheit.“ Wenn beim Jahn-Symposium aktuelle Erinnerungsorte für den „Turnvater“ gesucht wurden, dann könnte man jeden Turn- und Sportverein nominieren. Von denen sind rund 20.000 über hundert Jahre jung. Das ist vielleicht Jahns dauernde Lebensleistung: Die Gründung der Vereinssportbewegung.

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Abdruck aus der DOSB-Presse vom 42/2019