Hanswerner Kruse
Schlüchtern (Weltexpresso) - Jörg Sielaffs neues Buch „Geschichten aus der Provinz“ enthält keine Erzählungen mit literarischem Anspruch. Sondern er berichtet einfach von seinen (meist) alltäglichen Erlebnissen bei städtischen Sanierungsarbeiten in Osthessen sowie nach dem Mauerfall in der DDR.
Auch wenn der Architekt im Landesdienst und als Freiberufler keine Dramen erlebte, gibt es doch einige bühnenreife Episoden in seinen Geschichten. Da verjagte ihn eine Familie als Kommunisten, eine Frau bedrohte ihn mit ihrer Pistole: Damals in den 1970er-Jahren wurde Sanierung noch mit Sozialismus gleichgesetzt. In seinem Geigenkasten (Sielaff spielt Geige) vermutete man eine Maschinenpistole. Ein steinalter Totengräber war nicht bereit, seine - der Sanierung im Wege stehende - Hütte aufzugeben, weil er darin weiterhin Witwen befummeln wollte.
Doch immer wieder gelang es Sielaff das Misstrauen der Bewohner von verrotteten oder mit Asbest und Pappe verschandelten Altstadthäusern zu überwinden und ihr Vertrauen zu gewinnen. Die örtlichen Handwerker verbündeten sich mit ihm und die beträchtlichen Sanierungszuschüsse des Landes erleichterten seine vertrauensbildenden Maßnahmen. Eine ältere Prostituierte war sogar so begeistert von seiner Arbeit, dass sie ihm ihre Tochter, ebenfalls eine Dirne, als Belohnung anbot (die er dankend ablehnte).
Gleichzeitig war Sielaffs Job häufig mit Sozialarbeit verbunden. Einem Schlüchterner Alkoholabhängigen ermöglichte er, ein heruntergekommenes Altstadthaus durch Eigenleistungen zu erwerben. Ein wichtiger Helfer war er für einen Italiener, der Frau und Kind bei einem Unfall verlor. Und zwei politisch entzweite Schulfreunde brachte er wieder zusammen.
Durch seine Arbeit lernte er das Landleben schätzen und siedelte sich in einem Ortsteil von Schlüchtern an. Auch hier galt er zunächst als Exot mit eigentümlichen Verhaltensweisen: Zunächst schlief er auf seinem neuen eigenen Grundstück im Zelt, später im Rohbau seines Hauses. Auch an der Sanierung und Eröffnung des Schlüchterner „Heideküppels“ war er als Sanierungsbeauftragter beteiligt.
Schockiert war er von den Ereignissen in der DDR, die er zwischen dem Mauerfall und der Wiedervereinigung erlebte. Da war nicht nur das verantwortungslose Handeln ehemaliger DDR-Bosse, die einfach alles stehen und liegen ließen: In Thüringen traf er Kinder beim Spiel neben einem ungesicherten, 200 Meter tiefen Schacht oder erlebte haarsträubende lebensgefährliche Situationen in Kali-Bergwerken. Hier wurde er auch mit der mörderischen Nazivergangenheit konfrontiert, als er von den unmenschlichen Bedingungen für Zwangsarbeiter unter Tage erfuhr. Die Tristesse der Wendezeit berührte ihn sehr: Firmenschließungen, Arbeitslosigkeit, Ungerechtigkeiten - die natürlich „jammernde Menschen“ erzeugten. Da war es für ihn in seinem Job leichter einfach zuzupacken, während die DDR-Bürger kaum gelernt hatten, Probleme im Beruf selbständig und eigenverantwortlich zu lösen.
Am Ende seines schmalen Buches schreibt Sielaff über eine Frau mit einem als behindert etikettierten Kind, für das er sich engagierte und die Betreuung übernahm. Und er hängt noch einige einfühlsame Seiten über Kinder an. Hier wird sein humanes Grundgefühl, seine Empathie für Menschen, die sich durch alle seine Geschichten zieht, noch einmal ganz deutlich.
Vor über einem Jahr erschien Jörg Sielaffs erstes Buch „Gespräche mit meinem vermissten Vater“, das seine Kindheit
und Jugend sowie das frühe Erwachsenenleben schildert. Wir hatten bereits seinerzeit darauf aufmerksam gemacht,
dass der mittlerweile 80-jährige Autor das aufschreibt, was die Historiker „Oral History“ nennt:
Durch das Sprechenlassen von Zeitzeugen aus unterschiedlichen Milieus, werden deren Lebenswelten und Sichtweisen für die Nachwelt deutlich.
Jetzt im Buchhandel erhältlich: Jörg Sielaff: „Geschichten aus der Provinz, Episoden aus meinem Berufsleben“, 116 Seiten, Taschenbuch, 8,99 Euro
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Hanswerner Kruse