Keine „Liebe Au“ in Liebenau

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – Im niedersächsischen Liebenau ist es kein lieblicher Wald, durch den an diesem Nachmittag eine PKW-Kolonne mäandert. Sechzehn Autos sind es, die sich an Liebenaus Grundschule zu einem Konvoi formiert hatten. Ihre Insassen sind gekommen, um gemeinsam durch dunkle deutsche Vergangenheit zu rollen, angeführt von einem, der sich auskennt – in dieser Vergangenheit und in diesem zwölf Quadratkilometer großen Waldstück.
Er hat dafür einen Schlüssel. Der passt in das Schloss eines Tores des stacheldrahtbewehrten Zaunes um diese zwölf Quadratkilometer. Die Mäander darinnen bilden ein Netzwerk von betonierten Wannenwegen, durch die sich der PKW-Konvoi wie ein Lindwurm schlängelt. Vor siebzig Jahren hätten Fahrzeuge mit einem Verbrennungsmotor hier überhaupt nicht fahren dürfen. Deutsche Ingenieure fanden damals eine Lösung, die heute wieder modern werden soll: Achtzig Elektro-Karren transportierten auf den vierundachtzig Kilometer langen Betonstrassen etwas, das vor jedem Funken zu schützen war: Schiesspulver! Wir rollen durch die Infrastruktur eines Denkmals deutscher Ingenieurskunst, die sich einem autoritären Regime andiente.


Deutsche Ingenieure planten und realisierten im Wald von Liebenau ein System der Vernichtung ethischen Handelns – akribisch, funktional, täuschend. Der hier vorgestellte Rüstungsbetrieb war der flächenmäßig ausgedehnteste seiner Art in Deutschland. ... Im Jahr 1938 begannen die Planungen zur Errichtung einer Pulverfabrik im Gebiet zwischen den Orten Liebenau und Steyerberg. Eigentümer des Grundstückes wurde die Montan GmbH, Eigentümer der Werksanlagen das Oberkommando des Heeres. Das OKH beauftragte die Firma Wolff & Co aus Bomlitz mit dem Bau des Werkes. Nach Fertigstellung wurde der Komplex an die Montan GmbH übergeben. Diese verpachtete den Betrieb an die Eibia GmbH, eine Tochter von Wolff & Co. Die Eibia wiederum fertigte für das OKH. Diese Verflechtungen von vier Beteiligten, „Rüstungsviereck“ genannt, wurden bei den meisten vergleichbaren Anlagen angewandt.


Google View Maps wird heute auf den ersten Blick weder das Netzwerk der Betontrassen noch die rund vierhundert Produktionsgebäude im Liebenauer Forst erkennen lassen; das sollten schon alliierte Flugzeuge vor siebzig Jahren nicht.
Deutsche Ingenieure erfanden das Beton-Flachdach, auf dem bis heute Bäume wachsen. Deutsche Ingenieure erfanden das Skelett von Beton-Trägern darunter, die stehen blieben wenn doch einmal eine Pulver-Charge explodierte und die Leichtbau-Wände wegblies – mit ihnen auch manchen Menschen, der z.B. als verschleppter Pole in dieser Infrastruktur zur Arbeit gezwungen war.






Dort, wo der Besucher-Konvoi an diesem Nachmittag startete, gab es bis 1943 ein von der Gestapo eingerichtetes „Arbeitserziehungslager“ u.a. für polnische Häftlinge. An dieser Stelle soll es bald eine Dokumentationsstelle zur Pulverfabrik Liebenau geben.
Der Mann mit dem Torschlüssel weiß darüber mehr, doch ungestört lässt sich das besser auf seiner Website nachlesen: www.martinguse.de/pulverfabrik/index.htm
... oder in seinem Buch:
https://www.relikte.com/liebenau/index.htm
Dieses Buch behandelt das Thema Zwangsarbeit in der Pulverfabrik Liebenau:
Titel: „Ich war in Eurem Alter, als sie mich abholten!“
Autoren: Bodo Förster, Martin Guse
ISBN: 3-00-009250-1



Nachnutzung mit Atom-Minen


Das Sondermunitionslager wurde von der Bundeswehr im Jahre 1963 auf dem ehemaligen Standort der Anlage Karl der Eibia GmbH errichtet, wo von 1939 bis 1945 Sprengstoffe für die Wehrmacht produziert wurden. Während des Kalten Krieges wurden im Rahmen der Nuklearen Teilhabe Atomsprengköpfe für die MGR-1-Honest-John-Artillerieraketen des Raketenartilleriebataillon 12 in der Clausewitz-Kaserne in Nienburg-Langendamm, Atomminen für die Spezialsperrkompanie 100 in Minden und atomare Rohrartillerie-Granaten für die 1. Panzerdivision auf dem Gelände gelagert. Die entsprechenden Verbände übten das Verschießen der hier eingelagerten Granaten vier- bis fünfmal mal im Jahr.
Der innere Teil des Lagers wurde von der 32nd United States Army Field Artillery Detachment (USAFAD) bewacht. Das deutsche Wachpersonal stellte bis 1980 die 5. Batterie des Raketenartilleriebataillons 12, 1980 umbenannt in 4. Batterie, und schließlich ab 1984 die dem 1. Artillerieregiment direkt unterstellte Begleitbatterie 1. Rund um die Uhr bewachten immer mindestens drei amerikanische und 22 deutsche Soldaten das Lager.
https://de.wikipedia.org/wiki/Sondermunitionslager_Liebenau

Weitere Nutzung

Im Jahre 1992 wurde das Lager aufgeben. Die Gebäude wurden geschleift, übrig blieben die beiden Bunker. 2014 einigten sich das niedersächsische Umweltministerium und die IVG als Verwaltungsgesellschaft des Geländes darauf, dass in den nächsten Jahren 20 Millionen EUR für die Feststellung der Bodenbelastungen in Liebenau und Dörverden investiert werden sollen. 2019 wurde bekannt, dass private Investoren für mehrere Millionen Euro das Gelände gekauft haben. In den betroffenen Gemeinden regt sich Widerstand gegen den Verkauf, da die Bewohner sichergestellt sehen wollen, dass die Beseitigung der Kampfstoffe auch nach dem Verkauf durchgeführt und überwacht wird. Es wird vermutet, dass sich immer noch Kampfstoffe auf dem Gelände befinden, unter anderem auch Arsenkampfstoffe.

Die Besucher sehen an diesem Tag im Vorbeifahren Männer in weißer Schutzkleidung, die in den alten Gebäuden arbeiten. Vor diesen Gebäuden stehen ihre Privatautos, mit denen sie herkamen, um den Job zu machen. Sie haben polnische Kennzeichen.

FOTOS:
zitierte Webseiten

Info:
https://www.relikte.com/liebenau/index.htm

http://www.bildergalerie-diepholz.de/anlage_liebenau/Vor-1945/vor-1945.html