dw.comweihnEine Geschichte aus der Schatzkiste meiner Großmutter

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) – Diese Geschichte hat Oma meiner Schwester und mir beim Wäschewaschen erzählt als wir noch Kinder waren. Ereignet hat sie  sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg, also schon vor sehr langer Zeit. Oma war Verwalterin des Vereinshauses in Mährisch-Schönberg, einer kleinen Stadt am Fuße des Altvatergebirges in Mähren, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Ich erinnere mich an ein vergilbtes Foto, das Oma in würdevoller Pose mit einem mächtigen Schlüsselbund in der Hand auf der breiten Eingangstreppe des großen Gebäudes zeigt, das neben einem Restaurant auch einen Theatersaal beherbergte, auf dessen Bühne der größte Sohn der Stadt, der weltberühmte Tenor Leo Slezak, gelegentlich Gastspiele gab.

Oma hatte zwei Töchter, Hilda und Hermi, die eigentlich Hermine hieß, aber von meiner Großmutter immer noch Hermi genannt wurde, als sie erwachsen und selbst Mutter war, meine Mutter. Ihren Mann hatte Oma frühzeitig während seines Militärdienstes durch den Hufschlag eines Pferdes verloren. Als sie am Nachmittag eines Heiligen Abends den Weihnachtsbaum hereinholen wollte, den sie im Hof an die Hauswand gelehnt hatte, war er verschwunden. Oma vermutete, dass einer der Piccolos ihn stibitzt hatte.

Da um diese Uhrzeit ein neuer Baum in der Stadt nicht aufzutreiben war und sie sich Weihnachten ohne Baum nicht vorstellen konnte, machte sie sich kurz entschlossen auf den Weg in den nahe gelegen Wald, um dort einen neuen zu besorgen. Sie band sich eine Handsäge mit einer Schnur um den Leib und versteckte sie unter der Schürze. Den Kindern versprach sie, so schnell wie möglich zurück zu sein. Als sie den Wald erreichte, begann es allmählich zu dämmern. Sie musste sich also beeilen, aber das erstbeste Bäumchen wollte sie freilich nicht nehmen. So geriet sie  immer tiefer in den Wald. Als sie den passenden Baum gefunden hatte war es fast finster und Nebel erschwerte zusätzlich die Sicht. Oma verlor die Orientierung und wusste nicht, wie sie aus dem Wald herausfinden sollte.

Mit dem abgesägten Bäumchen unter dem Arm irrte sie durch die Finsternis und machte sich  Sorgen um die kleinen Töchter daheim.  Wenn sie aus der Ferne Kirchenglocken vernahm, hielt sie kurz inne. Aber das Geläut konnte auch aus einem Nachbarort kommen und half ihr  nicht weiter. Immer wieder lauschte sie mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit. Aber ringsum herrschte tiefe Stille. Dann war ihr mit einem Mal,  als hörte sie  von fern leise ein Weihnachtslied. Spielte ihr die Phantasie einen Streich oder wurde da wirklich vielstimmig  „Stille Nacht, Heilige Nacht“ gesungen?

Oma folgte der vertrauten Melodie und erkannte nach einer Weile die Umrisse einer Feldscheune, durch deren Ritze schwacher Lichtschein nach außen drang..Vorsichtig öffnete sie das Tor. Geblendet vom Licht vieler Kerzen erkannte sie festlich gekleidete Männer, Frauen und Kinder, die ihren Gesang jetzt unterbrachen und sich zu ihr umdrehten. Bereitwillig beschrieben sie Oma den Heimweg. Zu Hause wurde sie von ihren Kindern tränenreich begrüßt. So kam es, dass im Vereinshaus von Mährisch-Schönberg doch noch ein Baum mit bunten Kugeln auf dem Tisch stand, die Äste noch feucht und kalt vom Nebel im nächtlichen Weihnachtswald.

Foto:
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Info:
Entnommen meinem kürzlich erschienenen Buch „Vom Hinsehen und vom Wegsehen“, Ossietzky-Verlag, 192 Seiten, Preis 12 Euro