BKA-Zahlen aus dem Coronajahr 2020 enthüllen auch andere Probleme
Rebekka Dieckmann und Petra Boberg
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Im vergangenen Jahr sind deutlich mehr Kinder körperlich misshandelt worden als im Vorjahr - in Hessen stiegen die Fallzahlen um zwölf Prozent. Die Zahl des sexuellen Kindesmissbrauchs ist ebenfalls gestiegen. Experten warnen: Die Dunkelziffer könnte im Pandemiejahr sogar noch höher sein.
Schon seit Beginn der Pandemie werden immer wieder Befürchtungen laut, Kinder könnten durch Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen und angespannte Familienverhältnisse häufiger Opfer von Gewalt werden. Bisher lagen dazu jedoch nur Einzelberichte oder Meinungen von Experten vor. Nun zeigen Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA) offiziell: Es gab 2020 bundesweit einen deutlichen Anstieg.
Eine hr-Datenanalyse der BKA-Zahlen ergab: In Hessen ist die Zahl der misshandelten Kinder um zwölf Prozent gestiegen. Sechs Kinder wurden vorsätzlich getötet oder ermordet – doppelt so viele wie im Vorjahr. Es gab zudem knapp sieben Prozent mehr Fälle von sexuellem Missbrauch. Davon waren jüngere Kinder besonders stark betroffen: Bei den Kindern unter sechs Jahren betrug der Anstieg sogar rund 45 Prozent.
Bereits im März wurde bei der Veröffentlichung der landesweiten Polizeistatistik bekannt: Auch die Zahl der Fälle von Kinderpornographie ist im vergangenen Jahr deutlich angestiegen, sogar um gut 44 Prozent auf 1.449. Das liegt nach Angaben des Innenministeriums aber vor allem an neuen Meldepflichten für US-amerikanische Internet-Provider.
Kinderschutzbund: Mehr Fälle häuslicher Gewalt
Aus den BKA-Zahlen geht nicht genau hervor, wie viele Vorfälle im häuslichen Umfeld passiert sind. Olivia Rebensburg vom Kinderschutzbund Hessen geht jedoch von einer Zunahme der häuslichen Gewalt aus. So seien etwa die Zahlen der Kinder und Eltern, die beim Kinderschutzbund Hilfe suchten, im vergangenen Jahr spürbar gestiegen, etwa bei Telefonberatungsstellen wie der Nummer gegen Kummer.
Notfallnummern
Informieren Sie bei Gewalt in Familien die Polizei unter 110. Eine erste Anlaufstelle für Betroffene bieten auch:
? anonyme Telefonseelsorge: 0800 1110111 und 0800 1110222
? Kinder- und Jugendtelefon der "Nummer gegen Kummer": 0800 1110333
? Elterntelefon der "Nummer gegen Kummer": 0800 1110550
? Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530 oder save-me-online.de
? Kinder- und Jugendtelefon 116 111
Rebensburg erklärt: Verschärfungen habe es besonders da gegeben, wo die familiäre Situation schon vorher schwierig gewesen sei, etwa durch finanzielle Nöte, knappen Wohnraum oder auch Faktoren wie Krankheit oder Drogen. "Das ist dieses berühmte Brennglas, von dem wir ja im vergangenen Jahr so viel gehört haben, dass man es kaum noch hören kann."
Eltern am Limit
Auch Familien, die bisher keine Probleme gehabt hätten, seien inzwischen oft am Ende, meint Rebensburg. "Bei einigen wird die Luft wirklich eng." Solche Fälle landen dann oft am Elterntelefon, erklärt sie. Die Mitarbeiter würden die Eltern dann beraten, wie sie auf ihre eigene Psyche achten können, damit es eben nicht zu Gewalt in den Familien kommt.
Olivia Rebensburg vom Kinderschutzbund rät Eltern, die an ihr Limit stoßen: "Wenn jemand merkt: Jetzt rutscht mir gleich die Hand aus - dann ist es wichtig, aus der Situation rauszugehen und die Tür hinter sich zuzumachen." Am besten rufe man dann erst mal jemanden an, zum Beispiel eine Freundin, die Mutter oder ein Beratungstelefon.
Grundsätzlich ist Rebensburg überzeugt: Kinder sind stark und Familien können viel schaffen. "Aber jedes Kind wird aus dieser Krise anders hervorgehen, als wenn diese Pandemie nicht stattgefunden hätte", glaubt sie. Manche Familiensysteme seien vielleicht nur ein Stück weit erschüttert worden. Aber mit anderen habe es sehr viel gemacht.
Dunkelziffer könnte höher sein
Obwohl die Zahlen nun bereits einen deutlich Anstieg zeigen, weist der Kinderschutzbund noch auf ein weiteres Problem hin: Weil viele Institutionen und Einrichtungen phasenweise geschlossen hatten, sei durchaus möglich, dass Fälle im vergangenen Jahr sogar schlechter aufgedeckt werden konnten als sonst. Die Dunkelziffer könnte also noch höher sein. Die vieldiskutierte Frage: Wie gut haben die Meldesysteme funktioniert?
Denn: Polizei und Jugendämter sind maßgeblich darauf angewiesen, dass ihnen potentielle Kindeswohlgefährdungen von Außenstehenden mitgeteilt werden, etwa von Erzieherinnen und Lehrern, Kinderärztinnen und Sozialarbeitern. Und genau die haben in letzter Zeit immer wieder darauf hingewiesen, dass manche Kinder im vergangenen Jahr sehr isoliert waren oder sogar ganz abgetaucht sind.
Jugendamt: Hausbesuche finden statt - unter veränderten Bedingungen
Claudia Warnat ist Leiterin des Kreis-Jugendamtes Gießen. Sie berichtet: Der Ausbruch der Pandemie habe die Arbeit durchaus verändert. Es sei von heute auf morgen nicht mehr möglich gewesen, Hausbesuche genau so weiter durchzuführen wie bisher. "Als Jugendamt müssen wir einerseits den Kinderschutz sicherstellen, aber andererseits auch unsere eigenen Fachkräfte schützen."
Dennoch sei das Jugendamt bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung weiterhin verpflichtet, Hausbesuche durchzuführen und komme dieser Pflicht auch nach. Warnat erklärt: Es müsse dann vorher genau abgeklärt werden, ob in einem Haushalt jemand unter Quarantäne stehe oder positiv getestet worden sei. Je nachdem würden Mitarbeiter bei den Besuchen gegebenenfalls zusätzliche Schutzkleidung anziehen.
Positiver Effekt: Mehr Austausch mit den Kitas
Auch das Jugendamt im Kreis Gießen hat 2020 mehr Meldungen von möglicher Kindeswohlgefährdung bekommen als in den beiden Jahren vorher. Es seien 50 Verdachtsfälle mehr gewesen, so Warnat. "„Und das trotz vorübergehend geschlossener Kitas und Schulen."
Gut ein Drittel der Meldungen sei aus den Kitas gekommen. Warnat betont: Das Personal in den Einrichtungen im Landkreis werde schon seit Jahren geschult, sensibel zu sein, etwa für blaue Flecken oder Verhaltensänderungen. Im vergangenen Jahr sei der Austausch mit den Kitas häufig sogar intensiver geworden und die Schwelle, sich an das Jugendamt zu wenden, sei in den Einrichtungen gesunken. "Das war ein positiver Effekt."
Mehr Meldungen durch die Polizei
Auch Nachbarn oder andere Menschen aus dem Familienumfeld würden manchmal das Jugendamt informieren. Auffällig sei aber, dass dieses Jahr besonders viele Meldungen direkt von der Polizei gekommen seien. "Zum Beispiel wenn es laute Streitereien oder partnerschaftliche Auseinandersetzungen gab und dann jemand die Polizei gerufen hat."
Das sei allerdings ein "Umweg", meint Warnat. "Es gibt sicherlich eine Reihe von Familien, die das Jugendamt sonst über Kitas, Vereine oder Schulen gekannt hätte." Auch sie geht davon aus, dass die Dunkelziffer im Bereich der Gewalt an Kindern weiterhin hoch ist. "Möglicherweise noch höher, als sie ohne Corona wäre."
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Info:
Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 26.05.2021, 16.45 Uhr
Quelle: Frederik von Castell, Pascal Lasserre, hessenschau.de