Veröffentlichungen des Paritätischen Gesamtverbandes, Berlin, Teil 75
Der Paritätische
Berlin (Weltexpresso) - Unser Kollege Thorsten Mittag skizziert in seinem Kommentar die angespannte Lage in Pflegeeinrichtungen.
In den Einrichtungen brennt die Hütte. Nach dem, was wir aus den Paritätischen Landesverbänden hören, ist dies zum Glück nicht der Fall wegen schwerer Fallverläufe bei den Bewohner*innen, aber wegen den hohen Personalausfällen – teilweise 30 bis 40 Prozent. Omikron rauscht jetzt voll durch. Sämtliche Mitarbeitenden sind somit einer noch höheren Belastung ausgesetzt. Die angespannte Lage der letzten Jahre hat die Resilienzreserven aufgezehrt und zu einer pessimistischen Grundstimmung geführt. Der Bogen ist deutlich erkennbar überspannt. Die Zitrone ist ausgequetscht. Und: Die Sicherstellung der Versorgung kann ernsthaft in Gefahr geraten. Aus der Praxis hört man, fehlendes Personal ist gefährlicher, als ungeimpftes Personal. Im Augenblick müssten Pflegeeinrichtungen deswegen jedwede personelle Unterstützung und Entlastung erhalten. Mitten in der Omikronwelle müsste Politik die Priorität jetzt auf den aktuellen personellen Notstand legen und umgehend für funktionierende Versorgung in den Einrichtungen sorgen. Stattdessen verliert man sich in parteipolitischem Hin und Her und die Träger sehen sich mit den noch immer von der Politik unbeantworteten Fragen zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht zusätzlich im Stich gelassen.
Wenn die einrichtungsbezogene Impfpflicht kommt, droht trotz einer Impfquote der Mitarbeitenden, die im Durchschnitt höher ist als in der Bevölkerung, weiterer Personalausfall und somit Versorgungsengpässe. Aber merkt denn niemand, dass funktionierende Lösungen bei den aktuellen Omikron-Personalausfällen eine Blaupause zur Lösung der nächsten drohenden Ausfallwelle sein könnten? Stattdessen laufen vorsorgliche und akute Überlastungsanzeigen der Einrichtungen (gesetzlich möglich nach § 150 Absatz 1 SGB XI) ins Leere. Mit dieser Regelung sollen eigentlich pandemiebedingte Personalprobleme mit den Pflegekassen gelöst werden – ein guter und in der Vergangenheit bewährter Mechanismus. Die Pflegekassen fühlen sich aber derzeit nicht zuständig, reagieren nach Hörensagen nur langsam oder gar nicht. Träger treibt auch die Frage um, wer eigentlich die Haftung übernimmt, wenn nach dem 15. März 2022 ungeimpfte Beschäftigte ohne Rückmeldung des öffentlichen Gesundheitsdienstes weiterarbeiten? Welche Länder setzen die einrichtungsbezogene Impfpflicht nun fristgerecht um, welche nicht? Gibt es eine einheitliche Umsetzung in allen Ländern? Diese und viele weitere Fragen sind einstweilen ungeklärt. FAQ des Bundesgesundheitsministeriums sind angekündigt, aber keiner legt sich fest, wann sie abschließend kommen und ob wenigstens die wichtigsten Fragen vollständig beantwortet werden können.
Das ist nur ein Auszug der fachlichen Ebene. Wie sieht es mit der emotionalen Ebene aus? Wie stark Einrichtungen und damit auch ihre Mitarbeitenden angegriffen werden (können), haben uns in den letzten Wochen eindrucksvoll diverse Debatten und öffentliche Beiträge von allen Seiten gezeigt. Man muss hier nicht weiter darauf eingehen. Es wäre aber höchste Zeit, nochmal alle Fakten zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht auf den Tisch zu legen und konsequent und abschließend zu entscheiden, wie es jetzt laufen soll. Als statt einer allgemeinen Impfpflicht die aus unserer Sicht nicht richtige einrichtungsbezogene Impfpflicht beschlossen wurde, herrschte eine andere Virusvariante und das Boostern war gerade erst so richtig in Gang gekommen. Im Gegensatz zu heute gab es im letzten Quartal 2021 auch wieder mehr Fälle mit Todesfolge in den Einrichtungen. Es muss nun einmal mehr darum gehen, die aktuelle Lage vor dem Hintergrund beschlossener Gesetze zu bewerten. Das passiert leider nicht im erforderlichen Umfang. Ein kommunikatives Desaster, welches in der Pflege kaum noch jemand verstehen kann.
Hinzu kommt, dass neben den Umsetzungsproblemen bei der Regelung zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht derzeit weitere Anforderungen an die Einrichtungen gestellt werden.
Inmitten der größten Personalkrise, die die Einrichtungen in der Langzeitpflege jemals managen mussten, wird der große Wandel bei der tariflichen oder tarifähnlichen Entlohnung in der Pflege scharf geschaltet. Die Umsetzung der Tariforientierung hat lange auf sich warten lassen, aber sie ist kein Selbstläufer. Sie verursacht erheblichen Aufwand und wichtige Entscheidungen. Es ist lange unterschätzt worden, welcher Belastung auch die Geschäftsführung, Leitung und die Verwaltung, also das Management der Einrichtungen ausgesetzt sind. Voraussichtlich bei der Mehrheit aller Pflegeeinrichtungen wird die flächendeckende Tariforientierung viele Verhandlungen mit den Kostenträgern erfordern. Dies kann von den Einrichtungen nicht im Vorbeigehen erledigt werden. Die politisch Verantwortlichen müssten eigentlich sofort die Resettaste drücken, vor die Einrichtungen treten und sagen: O.K., wir wollen die kommenden schweren Wochen alles tun, um die Versorgungssicherheit in der Pflege zu gewährleisten.
Vorschläge, wie das gehen kann, liegen ja vor. Es gilt, die Unterstützungsmechanismen für Einrichtungen, die coronabedingt in personelle Schwierigkeiten kommen (und die es ja gibt), jetzt endlich praxisfest zu machen:
Die verkürzte Quarantänezeit für Pflegekräfte funktioniert nicht richtig. Hier sind die Probleme umgehend zu beheben.Die Überlastungsanzeige nach § 150 Absatz 1 SGB XI – als etabliertes Instrument zur vorübergehenden Vereinbarung von Abweichungen der Mindeststandards mit den Pflegekassen – muss vollständig, verlässlich und überall funktionieren. Dazu zählt auch, dass in solchen Fällen Qualitäts-Regelprüfungen und die Erhebung von Qualitätsindikatoren ausgesetzt werden können.Bürokratische Hürden, die häufig personelle Unterstützung durch die Bundeswehr oder durch MDK-Mitarbeitende verhindert, müssen sofort überwunden werden.
Die Belastung ist im Augenblick höher, als sie sein müsste.
Eine substantielle Verbesserung wird nicht hergestellt werden können, ohne die genannten aktuellen und größeren politischen Themen mit praktischer Relevanz so zu gestalten, dass sie umsetzbar werden:
Alle Fragen zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht müssen umgehend gelöst werden. Es muss für absolute Klarheit gesorgt und notfalls transparente und nachvollziehbare Übergangsfristen geschaffen werden und das Vertrauen der Einrichtungen und Beschäftigten muss wiedererlangt werden, indem u.a. die Verschmelzung mit der allgemeinen Impfpflicht beschlossen wird. Zur Umsetzung der Tariforientierung müssen die engen Fristen großzügig ausgelegt werden und bereits vorhandene Aktivitäten der Träger in Bezug auf Tarifverhandlungen sollen nicht konterkariert werden. Das Verwaltungshandeln und die Informationen der Pflegekassen hinsichtlich des Tarifdschungels müssen so ausgerichtet sein, dass sie das Management der Einrichtungen tatsächlich unterstützen. Die Ausgestaltung des angekündigten neuen Pflegebonus muss einheitlich sein. Die damit verbundenen Botschaften müssen einfach sein. Es darf nicht wieder zu Ungerechtigkeiten unter den Mitarbeitenden in den Einrichtungen führen. Hier sollte am besten vor der Gesetzgebung ein Blick in die viele Seiten umfassende FAQ-Liste erfolgen, die seinerzeit nötig war, um den ersten Bonus umzusetzen und die somit Zeugnis unnötig vieler Schwierigkeiten ist. Das kann alles vermieden werden.Der Rettungsschirm-Pflege ist bis Ende März 2022 befristet. Eine Verlängerung ist angezeigt. Es wäre an der Zeit, Klarheit über die Verlängerung zu schaffen.
Es braucht jetzt klare Worte. So wie es gerade läuft, kann es nicht bleiben. Darf es nicht. Wer nichts sagt und tut, macht die Augen zu.
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Info:
der-paritaetische.de
Auf dem Omikron-Höhepunkt: Viele Pflegeeinrichtungen sind personell am Ende. Ein Appell an die Politik, jetzt die richtigen Prioritäten zu setzen
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- Kategorie: Alltag