Veröffentlichungen des Paritätischen Gesamtverbandes, Berlin, Teil 129
Der Paritätische
Berlin (Weltexpresso) - Nachdem das Projekt „Personalbedarfsbemessung in vollstationären Pflegeeinrichtungen“ (PeBeM), welches durch Prof. Dr. Heinz Rothgang (Socium – Universität Bremen) mit dem Ziel zur Schaffung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs nach qualitativen und quantitativen Maßstäben im Jahre 2020 abgeschlossen werden konnte, wurde die weitere Umsetzung, gemäß der Vereinbarungen aus der Konzertierten Aktion Pflege (KAP), ab dem Jahr 2021 über die Erstellung einer Roadmap und der gesetzlichen Einführung des Personalbemessungsinstruments (§113c SGB XI) sowie der Ausgestaltung des Modellprojekts nach § 8 Abs. 3b SGB XI zur modellhaften Einführung weiter vorangebracht.
Der Paritätische hat sich intensiv für die Einführung und Umsetzung des wissenschaftlichen Personalbemessungsinstrumentes eingesetzt. Nun hat die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege ein politisches Forderungspapier veröffentlicht, aus dem hervorgeht, welche Kontextfaktoren u.a. vom Gesetzgeber zu bearbeiten oder zu lösen sind, damit die Umsetzung gelingen kann.
Im Rahmen der in der BAGFW kooperierenden Verbände wird das Thema verbandsübergreifend bearbeitet. Gemeinsam treten sie für eine möglichst vollständige Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse ein. Ziel ist es, dass in allen vollstationären Pflegeeinrichtungen, für eine bessere Versorgung von Heimbewohner*innen und Entlastung der Beschäftigten, mehr Personal zur Verfügung steht (wissenschaftlich abgesicherte Mehrpersonalisierung) – ohne eine zusätzliche Belastung bei den pflegebedingten Eigenanteilen.
Die Umsetzung wird eine längere Zeit in Anspruch nehmen, als sich Politik und teilweise auch andere Verbände eingestehen wollen. Dies zeigt sich z. B. eindrucksvoll im aktuellen Koalitionsvertrag. Dort ist geplant, die ohnehin kaum einhaltbare Zeitschiene der ersten Ausbauphase aus dem Gesetz (bis 2025) sogar zu “beschleunigen”. Im Gegensatz dazu gehen wir davon aus, dass die von uns geforderte „vollständige“ Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse 10 bis 15 Jahre in Anspruch nehmen wird.
Aufgrund der Komplexität und langjährigen Einführung einer Personalbemessung, der Verfügbarkeit von Pflegekräften und weiterer Limitationen hat sich der Gesetzgeber bis dato nicht festgelegt, ob die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus PeBeM 1:1 umgesetzt werden können. Dafür hat der Gesetzgeber Mitte 2025 eine Evaluation vorgesehen, die alles offen lässt. Dies führt in Bezug auf die bisher geplanten Phasen – trotz umfassender gesetzlicher Bestandsschutzregelungen für die Einrichtungen – zu Verunsicherung in der Fachwelt und Praxis. In mindestens sechs Bundesländern liegt die erste Ausbauphase unterhalb der Möglichkeiten im Bereich der Personalausstattung. Dort wird bezweifelt, dass die o. g. Bestandsschutzregelungen tatsächlich greifen und am Ende weniger Personal als vorher zur Verfügung steht. Dies ist aus unserer Sicht aber nicht beabsichtigt. Das Problem besteht u.a., weil der Gesetzgeber sich nicht festgelegt hat, welches Ziel darüber hinaus erreicht werden soll. In allen anderen Bundesländern, welche derzeit niedrigere Personalschlüssel umsetzen, bleibt die Umsetzung zu sehr im Belieben. Zudem fehlen in der Frühphase der Einführung weitere Erkenntnisse für die Umsetzung in das Vertragswesen, die im Prinzip erst über das o.g. Modellprojekt nach § 8 Abs. 3b SGB XI gewonnen werden können.
Bereits im Vorfeld zur Gesetzgebung durch das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) haben sich zentrale Forderungen herauskristallisiert, die zu einer gelingenden Umsetzung erforderlich sind:
Der Gesetzgeber muss zügig festlegen, in welchem Umfang die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus PeBeM umgesetzt werden sollen. Hierzu ist ein langfristiger Plan über einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren mit allen Ausbaustufen festzulegen. Aus unserer Sicht sollen 100 % des Personalmehrbedarfs aus PeBeM erreicht werden. Damit in allen Bundesländern mehr Personal als vorher eingesetzt werden kann und dauerhafte Bestandsschutzregelungen obsolet werden, sind vermutlich mindestens 80 % erforderlich.Um § 113c SGB XI umzusetzen, bedarf es einer umfassenderen Begrenzung bzw. Deckelung der pflegebedingten Eigenanteile. Alleine die Überführung der Zusatzstellenprogramme in die Pflegesätze bis Ende 2025, wie in § 113c Absatz 6 SGB XI vorgesehen, ist ansonsten schlichtweg unmöglich.Es bedarf einer Ausbildungsoffensive für die nach Landesrecht ein- bzw. zweijährig ausgebildeten Pflegehilfskräfte. Dazu müssen vor allem die Landesregierungen Verantwortung für die Schaffung von Schulplätzen übernehmen und den Lehrermangel beseitigen. Die Harmonisierung oder gar Vereinheitlichung dieser Ausbildungen in den Ländern ist zudem umzusetzen.Der Algorithmus zur Berechnung des Personalbedarfs muss in geeigneter Form spätestens ab dem 01. Juli 2022 veröffentlicht werden, damit die Anpassung der Landesrahmenverträge bis Mitte 2023 – wie gesetzlich vorgesehen – vorgenommen werden kann.Die Schnittstelle zum Ordnungsrecht der Länder in Bezug auf die Fachkraftquote, die perspektivisch im Personalmix durch einen Fachkraftanteil ersetzt wird, ist zu klären.Die KAP-Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Pflegeberufs sind konsequent weiterzuführen.
Diese Forderungen sind Konsens unter den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege und Bestandteil des Positionspapiers.
Der Paritätische hält es ergänzend für sehr wichtig, dass in Abgrenzung zum vollstationären Bereich der ambulante Pflegebereich nicht weiter ins Hintertreffen gerät. Er muss vollumfänglich gestärkt werden. So ist u.a. auch dort eine Begrenzung der Eigenanteile (hilfsweise eine sofortige angemessene Dynamisierung der Pflegesachleistungen) umzusetzen.
Hintergründe zum Thema Personalbemessung und ein Abriss der Entwicklungen der letzten 1,5 Jahre:
Roadmap
Die Roadmap zur Verbesserung der Personalsituation in der Pflege und zur schrittweisen Einführung eines Personalbemessungsverfahrens für vollstationäre Pflegeeinrichtungen, die vom BMG im Einvernehmen mit dem BMFSFJ unter Beteiligung der Trägervereinigungen der Pflegeeinrichtungen auf Bundesebene und vieler weiterer Akteure erarbeitet wurde, wurde im Februar 2021 veröffentlicht. Dem voraus gingen mehrere Gesprächsrunden und Konsultationen mit dem BMG und dem BMFSFJ, denn in der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) wurde vereinbart, dass die genannten Ministerien unter Beteiligung der relevanten Akteure eine Roadmap entwickelt, in der die notwendigen Umsetzungsschritte für das Personalbemessungsverfahren dargestellt und mit einem Zeitplan versehen werden. Allerdings wurden keine Festlegungen zu weiteren Ausbauschritten – insbesondere nicht hinsichtlich der Anzahl der Pflegekräfte – getroffen.
§ 113c SGB XI (GVWG)
Mit dem GVWG ist der § 113c SGB XI „Personalbemessung in Pflegeeinrichtungen“ neu geregelt worden. Die Trägervereinigungen auf Bundesebene haben in § 113c Absatz 4 SGB XI einen konkreten Auftrag erhalten, bis zum 30. Juni 2022 zusammen mit dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen Empfehlungen zu Inhalten der Verträge nach § 113c Absatz 5 SGB XI zu erstellen. Für den Fall, dass die Bundesempfehlungen nicht geeint werden können, ist ein Konfliktlösungsmechanismus vorgesehen. Diese Bundesempfehlungen sollen die Anpassung und Ergänzung der Rahmenverträge nach § 75 Absatz 1 SGB XI auf Landesebene (umzusetzen bis 30. Juni 2023) vorbereiten und zu einer einheitlichen Umsetzung beitragen.
Geregelt werden sollen die in § 113c Absatz 5 SGB XI genannten Inhalte. Diese umfassen die folgenden vier verhandlungsrelevanten Themenbereiche:
Prüfung/Anpassung bisher festgelegter Personalanhaltswerte für das Pflege- und Betreuungspersonal, wobei die personelle Mindestausstattung bezogen auf die Anzahl an Pflegebedürftigen definiert wird.Berücksichtigung landesspezifischer Besonderheiten, Pflegesituation in der Nacht, Einrichtungsgrößen (Mindestausstattung Pflegefachkräfte) und von Einrichtungskonzeptionen.Berücksichtigung besonderer Personalbedarfe beispielsweise für die Pflegedienstleitung, Qualitätsbeauftragte und die Praxisanleitung.Regelung der Qualifikationsanforderungen von Fachkräften und Hilfskräften (Pflege- und Betreuungspersonal) unter Berücksichtigung der Vorschläge für die Qualifikationsniveaus (QN) aus PeBeM.
Modellprojekt nach § 8 Abs. 3b SGB XI (modellhafte Einführung)
Im Sommer 2021 fand eine erste Beiratssitzung zu dem Modellprojekt nach § 8 Abs. 3b SGB XI (modellhafte Einführung) statt, in dem die BAGFW vertreten ist. Das Projekt ist nicht im Qualitätsausschuss Pflege, sondern ausschließlich beim GKV sowie beim BMG angesiedelt. Da die Umsetzung der Ergebnisse aus dem ursprünglichen Projekt nach § 113c SGB XI einer längerfristigen Strategie bedarf, soll eine modellhafte Erprobung weitere Erkenntnisse u.a. zu Fragen der Organisationsentwicklung bringen. Konkret geht es um die Erprobung des Algorithmus 1.0 (dem eigentlichen Berechnungstool, mit dem gem. der Auslastung nach Pflegegraden bedarfsgerecht ein Personalmix errechnet wird) und eine kompetenzorientierte Aufgabenverteilung; Konzepte für die begleitende Organisations- und Personalentwicklung sowie Digitalisierung und Technikeinsatz in der Fläche sollen geschaffen und Effizienzreserven im Allgemeinen sollen berücksichtigt werden. Der Start des Projekts ist für Mitte 2022 avisiert, mit einer Laufzeit von 2 bis 2,5 Jahren, Zwischenergebnisse sollen der Praxis unverzüglich zur Verfügung gestellt werden. Der GKV hatte die Leistungsbeschreibung zur Vergabe des Projekts mittlerweile veröffentlicht. Alle Unterlagen zum Vergabeverfahren waren auf der Homepage des GKV-Spitzenverbandes zu finden: www.gkv-spitzenverband.de/gkv_spitzenverband/ausschreibungen/ausschreibungen.jsp oder direkt unter www.subreport-elvis.de ;
Fazit:
Auf vollstationäre Pflegeeinrichtungen kommt ab spätestens Mitte 2023 ein größerer Organisationsentwicklungsprozess zu, damit der avisierte neue Personalmix umgesetzt werden kann. Dazu stehen voraussichtlich ab Mitte des Jahres 2023 erste Konzepte zur Implementierung aus der modellhaften Einführung (§ 8 Abs. 3b SGB XI) zur Verfügung. Bereits jetzt kann auf Grundlage der Interventionskataloge aus dem Projekt „PeBeM“ mit der vorhandenen Personalausstattung “Aufgabenverteilung” zwischen Fach- und Hilfskräften (im Sinne des neuen Personalmix) “geübt” werden. Die Kataloge liegen allerdings in einer Form vor, die im Augenblick nicht gut handhabbar sind. Der Paritätische setzt sich dafür ein, dass sie besser nutzbar gemacht werden können.
In der aktuellen Phase sind für die betroffenen Einrichtungen die Rahmenbedingungen ohnehin schwierig. Themen wie Corona, Impfpflicht, Tariforientierung usw. verunsichern und schränken die Versorgungs- und Leistungsfähigkeit ein. Die derzeit gesetzlich unklare Zielsetzung des § 113c SGB XI und die damit verbundenen Fragen und Unsicherheiten tragen insoweit noch nicht zu dringend benötigter Sicherheit und Planbarkeit bei.
Hier ist zu berücksichtigen, dass ein Personalaufbauprogramm in Zeiten, in denen Personal schwierig zu rekrutieren ist, nicht aus dem Stand heraus überzeugt. Daher ist ein langfristiger und gesetzlich abgesicherter Plan von 10 bis 15 Jahren erforderlich, der die Maßnahmen in realistische und handhabbare Bahnen lenkt, der überzeugt und somit letztlich breite Unterstützung in den Einrichtungen findet. Insbesondere sind umgehend Anstrengungen zu unternehmen, dass alle Landesregierungen ein Hauptaugenmerk auf die Schaffung von Schulplätzen legen. Das Programm steht und fällt ganz entscheidend damit, ob es gelingt, in den kommenden 10 Jahren 100.000 bis 120.000 Pflegehilfskräfte auszubilden und dem Pflegebereich zur Verfügung zu stellen.
Dokumente zum Download
Microsoft Word - 2022-03-21 BAGFW_Positionspapier 113c_.docx (198 KB)
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©vdek.com
Umsetzung des Personalbemessungsinstrumentes in vollstationären Pflegeeinrichtungen nach § 113c SGB XI – Position der BAGFW
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- Kategorie: Alltag