Veröffentlichungen des Paritätischen Gesamtverbandes, Berlin, Teil 125
Der Paritätische
Berlin (Weltexpresso) - Der Europäische Gerichtshof hat am 1. August 2022 eine wichtige Entscheidung gefällt: Darin erklären die Richter*innen die deutsche Rechtslage, entsprechend der EU-Bürger*innen in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland vom Kindergeld ausgeschlossen werden, für unzulässig.
Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch im Juli 2019 wurde der Kindergeldanspruch für EU-Bürger*innen in den ersten drei Monaten des Aufenthalts gestrichen , wenn noch keine Einkünfte aus einem Beschäftigungsverhältnis oder selbstständiger Tätigkeit erzielt werden. Der Paritätische kritisierte die Neuregelung als sozialpolitisch fatal und als europarechtswidrig.
Nun hat der Europäische Gerichtshof mit dem Urteil vom 1. August 2022 (EuGH, C‑411/20) entschieden, dass die deutsche Regelung (in § 62 Abs. 1a S. 1 EStG) tatsächlich unionsrechtswidrig ist. Kindergeldansprüche in den ersten drei Monaten des Aufenthalts dürfen nicht von einer Erwerbstätigkeit abhängig gemacht werden, da es sich bei dieser Bedingung um eine unzulässige Diskriminierung handelt: Die deutschen Bürger*innen erhalten nach einer Rückkehr aus einem anderen Mitgliedsstaat Kindergeld, ohne diese Voraussetzung erfüllen zu müssen. Nach Auffassung des EuGH handelt es sich bei dem Kindergeld nicht um eine "Sozialhilfeleistung", sondern um eine "Leistung der Sozialen Sicherheit" zum Ausgleich der Familienlasten. Für diese Leistungen gilt, aners als für "Sozialhilfeleistungen", der europarechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz gem. Art 4 VO 883/2004 sowie gem. Art. 24 Abs. 1 UnionsRL.
Ein Anspruch auf Gleichbehandlung beim Kindergeld besteht nach dem Urteil allerdings erst dann, wenn EU-Bürger hier ihren gewöhnlichen Aufenthalt nachweisen können - ein nur vorübergehender Aufenthalt reiche nicht aus. Kriterien zur Prüfung sieht Art 11 VO 987/2009 vor.
Die Gesetzgeberin ist nun gefordert, das Gesetz zu überarbeiten, die Ausschlüsse vom Kindergeld für Unionsbürger*innen zu streichen und eine unionsrechtskonforme Neuregelung zu schaffen. Auch bevor eine solche Gesetzesänderung in Kraft tritt, müssen die Familienkassen die Rechtsprechung des EuGH berücksichtigen, da der Ausschluss von vornherein unionsrechtswidrig war und damit rechtlich unanwendbar ist. Für die Beratungspraxis heißt es: Ab sofort besteht in den ersten drei Monaten des Aufenthalts der Anspruch auf Kindergeld, ggf. auch rückwirkend für die letzten sechs Monate.
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EuGH: Kindergeldsperre für erwerbslose EU-Bürger*innen in den ersten drei Monaten ist rechtswidrig
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- Kategorie: Alltag