Veröffentlichungen des Paritätischen Gesamtverbandes, Berlin, Teil 366
Der Paritätische
Berlin (Weltexpresso) - Angesichts der Kapriolen um die aktuelle Pflegereform kann nur noch laut gerufen werden, dass die Bundesregierung die dramatische Zuspitzung in der Langzeitpflege ignoriert. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach legt sich hinter den fahrenden Zug, Finanzminister Christian Lindner fährt darin mit den dringend benötigten Steuermilliarden davon und Bundeskanzler Olaf Scholz hält den Zug nicht an. Was nicht sein darf, passiert – es werden vier Jahre vergeben, in denen weder die Finanzierung von Pflege von Grund auf geklärt, noch ein Gesamtplan für eine demographiefeste Versorgung erstellt wird.
Die aktuelle Situation ist geprägt von einem sich zuspitzenden Versorgungsnotstand. Immer mehr Betten müssen in Pflegeheimen stillgelegt werden und immer mehr Aufträge müssen von ambulanten Pflegediensten abgelehnt werden. Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen oder vergleichbar Nahestehende finden keine Angebote mehr. Hauptproblem ist der Personalmangel durch kurz- und langfristige Erkrankungen und durch Nichtbesetzung offener Stellen. In der ambulanten Pflege müssen wir ohnehin schon länger von einer Unterversorgung ausgehen, z.B. auch, weil Pflegebedürftige bei den erheblich steigenden Preisen (aber seit 2017 gleichbleibender Zahlung der Pflegeversicherung) weniger Leistungen in Anspruch nehmen. Der Bereich ist eine Blackbox. Größere Untersuchungen werden aber bisher durch die Politik nicht veranlasst. Der Sozialverband VdK hat eine Studie zur Häuslichen Pflege (2020-2022) durchgeführt. Die Ergebnisse sind alarmierend: U.a. können rd. 80 % der Pflegebedürftigen in der eigenen Häuslichkeit den Entlastungsbetrag nicht nutzen, weil Angebote fehlen[1].
Pflegeeinrichtungen kommen in vielfacher Hinsicht geschwächt aus den Krisen. Pflegekräfte, Leitungen und Verwaltung sind nach vielen Jahren des Ausnahmezustandes überlastet und hängen genervt den Job an den Nagel. Der Dauerzustand von Überbeanspruchung durch herausfordernde Versorgungssituationen, ständigem neuen Regelwerk und dem administrativen Aufwand einerseits und der Ohnmacht gegenüber der Kleinstaaterei und Willkür von diversen Aufsichten, Kostenträgern und Prüfinstitutionen (deren Zuständigkeiten zudem häufig unklar sind), entlassenden Krankenhäusern und dem zunehmenden Behördenversagen andererseits, hat sie ausgemergelt, weil Unmögliches verlangt wird. Die Daseinsvorsorge ist auf dieser Grundlage ernsthaft gefährdet. Wir stehen einen Schritt entfernt vor dem Aufstand. Angesichts dieser Situation stimmen selbst Geschäftsführer gemeinnütziger Träger in den liberalen Sound ein und fordern Deregulierung. Sie können ihren Mitarbeitenden die Bürokratie nicht mehr zumuten. Und am Vorabend der Digitalisierung der Pflege – die so viele Effizienzen heben soll - muss festgestellt werden: Bisher nur Aufwand, unklare Finanzierung und Bürokratie. Was heißt das nun konkret? Reformen, Verordnungen, Richtlinien oder Festlegungen, die ins operative Geschäft eingreifen und wieder Mehraufwand nach sich ziehen, müssen zurückgestellt werden. Die Träger sind genervt von der Fremdbestimmtheit. Dringliche Themen bleiben liegen und der Überblick droht verloren zu gehen. Planungen für die Zukunft sind derzeit kaum möglich. Wir brauchen ein Moratorium. Pflegeeinrichtungen und ihre Mitarbeitenden benötigen Zeit zur Rekonvaleszenz. Lasst die Pflegeeinrichtungen in Ruhe!
Das aktuell durch die Presse gehende „Heimsterben“ bedarf einer differenzierten Betrachtung. Einerseits zeigt sich unweigerlich das systemische Versagen in der Pflege. Investorengesteuerte Wachstumsmodelle haben in Zeiten einer Zinswende keinen Bestand und sind daher nicht dauerhaft sicher. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dann liegt dieser nun vor. Häufig sind die Pflegeheimpleiten dann doch eher Immobilienpleiten, z.B. wenn indexierte Mieten zu zahlen sind, die nicht mehr bedient werden können oder ggf. auch bedient werden wollen, weil dies die Rendite schmälert. Wie kann es eigentlich sein, dass Pflegeheimbewohner*innen in einem Bereich der Daseinsvorsoge dem ausgesetzt sind?
Aber, der Personalmangel, der eben auch zu einem erheblichen Teil für Pleiten verantwortlich ist, weil Einrichtungen mit zu viel stillgelegten Betten nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden können, betrifft neben dem allgemeinen wirtschaftlichen Sinkflug die ganze Branche und somit auch Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege – wenngleich noch nicht in einer kritischen Größenordnung. Ohne eine pragmatische Lösung bei der Auslastung oder beim Einsatz des Personals, ohne die Mehrpersonalisierung in Frage zu stellen, werden die Schwierigkeiten kurzfristig nicht zu lösen sein.
Die wirtschaftliche Lage ist aber schon länger sehr angespannt. Es gibt kaum ein Gespräch mit Kostenträgern, Ministerien oder Politik, in dem der Paritätische dies nicht thematisiert. Die Refinanzierung der erheblichen Kostensteigerungen (seit Mitte 2022 Mehraufwand Coronapandemie, Tariftreue, Inflation und bis März 2023 auch die Energiekosten) über zeitnah neu abgeschlossene Vergütungsvereinbarungen mit den Kostenträgern ist zu einem gigantischen Wagnis geworden, denn unklar ist, ob die Abschlüsse ausreichen oder überhaupt zu Stande kommen. Dies gilt insbesondere immer noch für die Teuerungen wg. der Lohnsteigerungen. Kranken- und Pflegekassen sind im Grunde personell vielfach überfordert und Verhandlungen und Schlichtungen werden dadurch blockiert. Ambulante Pflegedienste sind hierbei aus unterschiedlichen Gründen überdurchschnittlich mehr betroffen bzw. benachteiligt. Wie kann es sein, dass Träger in der öffentlichen Daseinsvorsorge auf ihren Kosten sitzen bleiben und in wirtschaftliche Bedrängnis geraten? Hier ist eine Überprüfung rechtlicher Rahmenbedingungen erforderlich.
Die Gesamtentwicklung hat zu erheblichen Steigerungen bei den Eigenanteilen geführt, die Pflegebedürftige aus eigener Tasche bezahlen müssen. Finanzierung und Eigenanteile sind die Schlüsselthemen. Macht man hier nichts, werden nicht zuletzt Pflegebedürftige gegen Einrichtungen und ihre Mitarbeitenden ausgespielt. Jede Regierung, die daran vorbeigeht, ignoriert die Nöte und die Furcht pflegebedürftiger Menschen vor Unterversorgung, hohen Eigenanteilen oder Armut. Weitere Zuschüsse, Dynamisierung von Leistungen usw. setzen nur Stückwerk fort und werden nicht ausreichend sein, um das Problem zu lösen. Daher spricht der Paritätische sich schon seit längerem für eine Pflegevollversicherung aus – auch für den ambulanten Bereich. Im Durchschnitt muss z.B. ein(e) Pflegeheimbewohner*in im ersten Jahr der Versorgung im Pflegeheim 2685 € Eigenanteil aufbringen, davon 1245 € nur für Pflege. Und die Preisentwicklung ist noch nicht am Ende. Pflegebedingte Eigenanteile steigen bis 2026 im ersten Jahr der Heimversorgung voraussichtlich nochmal um über 33%[2]. Dies ist für viele nicht mehr leistbar.
Wir haben aber auch operative Probleme ganz anderer Art. Häufig sind sich die Selbstverwaltungspartner untereinander und mit der Politik auf der Bundesebene in der Sache einig und ganz hervorragende Maßnahmen wurden aus der Taufe gehoben. Die Frage ist aber, warum die alleine seit dem Jahr 2015 eingeführten Maßnahmenbündel[3] bisher keine durchschlagende Wirkung entfalten? Sicherlich nicht, weil die Einrichtungen diese nicht umsetzen (wollen). Viele gut gemeinte Ansätze werden schlichtweg vor Ort in Vertragsverhandlungen von Kostenträgern zu Fall gebracht. In der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) z.B. wurden zig Maßnahmen zur Betrieblichen Gesundheitsförderung und zum Arbeitsschutz formuliert, von denen wir wissen, dass sie extrem förderlich für gute Arbeitsbedingungen sind. In kaum einen Vertrag haben aber bisher dazu handfeste Kennzahlen Einzug gehalten, welche die Einrichtungen in die Lage versetzen, diesbezüglich mehr für ihre Mitarbeitenden zu tun. Viele Träger haben viel zu lange auf die Anpassung ihrer Verträge wg. der oben erwähnten Tariftreueregelungen warten müssen. Und wenn sich die aktuellen hohen Abschlüsse zum TVöD wiederum in der Praxis niederschlagen, trifft dies auf eine Situation, in der die Puffer aufgebraucht sind. Das ist gefährlich. Die elektronische Abrechnung, die seit über 20 Jahren möglich ist, lässt flächendeckend immer noch auf sich warten. Trauriges Beispiel bietet auch die freiwillig an die Beschäftigten ausgezahlte Inflationsausgleichsprämie, von der viele Träger Gebrauch gemacht haben und von der die Kassen zuletzt im Nachhinein vielerorts behaupteten, sie wäre kein Lohnbestandteil und müsse nicht refinanziert werden. Zur Vereinbarung von Mitarbeiterpoollösungen, um der Leiharbeit etwas entgegenzuhalten, musste schließlich der Gesetzgeber mit der aktuellen Pflegereform tätig werden, weil dies mit den Kostenträgern einfach nicht richtig zu vereinbaren war. Und die Umsetzung des neuen Pflegeverständnisses in den Verträgen lässt ebenfalls bis heute auf sich warten. Sogar die Umsetzung der großen und relevanten und richtigen Unterstützungsmaßnahmen in den Krisen wurden am Ende zu bürokratisch und sind leider mit Unsicherheiten verbunden: Pflegerettungsschirm, Pflegebonus, Energiehilfen. Unnötig viele Fragen blieben offen. Dicke Kataloge mit FAQs mussten erstellt werden und letztlich verbleiben Risiken bei den Trägern. Es bleibt immer eine große Unsicherheit.
Das ist überhaupt das große Problem „Unsicherheit“. Was wir benötigen ist aber genau das Gegenteil: „Sicherheit“ – und zwar für Pflegebedürftige, Pflegende, Beschäftigte und Pflegeeinrichtungen. Und bitte aus einem Guss!
[1] www.vdk.de/deutschland/pages/85895/pflegestudie
[2] Projektion 3. Quartal 2023 (Rothgang et al. 2023: Hilfe zur Pflege in Pflegeheimen – Zukünftige Entwicklung unter Berücksichtigung der aktuellen Reformmaßnahmen. Aktualisierung einer Expertise im Auftrag der DAK-Gesundheit, Feb. 2023.)
[3] Entbürokratisierung der Pflegedokumentation (EinSTEP, 2015) / Einführung neues Pflegeverständnis (2016): Aufwertung und Stärkung der Fachlichkeit. / Umsetzung Forschungsprojekt zur Entwicklung Instrument Personalbemessung (2016) / Pflegeberufegesetz (2017) Neuordnung der Pflegeausbildungsberufe (Zukunftsfähigkeit, Durchlässigkeit, Lebenslanges Lernen, Steigerung d. Attraktivität, Anschlussfähigkeit EU, usw.) / Fachkraftstellen-Sofortprogramm (2017): 13.000 Pflegefachkräfte werden zusätzlich finanziert / Konzertierte Aktion Pflege (KAP, 2017): Mehrere hundert Maßnahmen zur Entlastung und Steigerung der Attraktivität des Berufes sowie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen (Ausbildungsoffensive, Personalführung und -management, Gesundheitsförderung, Innovationen, Digitalisierung, Anwerbung und Anerkennung Drittstaaten, Entlohnung) / RoadMap zur Umsetzung eines Personalbemessungsinstrument als Ergebnis der KAP (2021) / Hilfskraftstellenprogramm als Vorstufe zur Einführung Personalbemessungsinstrument: 20.000 staatl. anerkannte Pflegehilfskräfte (2021) / Tariforientierung, Aufgabenerweiterungen und Stärkung von Fachkräften (2022) / Einführung Personalbemessungsinstrument (ab Mitte 2023).
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