c anatomieThomas Palzer, Vergleichende Anatomie, Matthes & Seitz, Berlin 2018

Thomas Adamczak

Otzberg/Odenwald (Weltexpresso) - »Du bist mir zu alt.« Das knallt seine Lebensgefährtin dem Autor Thomas Palzer an den Kopf, nachdem sie aus der gemeinsamen Siesta erwacht. Sein knapper Kommentar: »Das saß.«

Vierzehn Jahre älter ist er als seine »Angebetete«, mit der er bis dahin nahezu zwei Jahrzehnte zusammenlebte. Das Ende einer Liebe, schreibt der Autor in diesem lesenswerten Essay, ist wie ein »Naturereignis«. Als die Liebesbeziehung mit dem wenig schmeichelhaften Satz »Du bist mir zu alt« beendet wurde, war der Autor Mitte fünfzig. Während der Arbeit an »Vergleichende Anatomie« hatte er das sechzigste Lebensjahr gerade überschritten, fühlte sich aber, schreibt er, keineswegs alt, »sondern in den besten Jahren«.

a anatomieDas aber getraut er sich nicht ihr zu sagen, sondern steht erst einmal »ratlos« vor dem Spiegel und betrachtet sich im »Adamskostüm«. Was sieht er? »Gut, es war nicht mehr das neueste, das war kaum zu bestreiten. Es schien auch, als sei es seit Längerem nicht gebügelt worden. Der Hals war faltig geworden, die Haut in den Armbeugen schlaff, an manchen Stellen fanden sich Dellen. .... aus Ohren und Nase sprossen mir dunkle, widerborstige Haare, die ich zwar mühsam entfernte, die aber nach meinem Eindruck alle am nächsten Tag wieder zur Stelle waren. Ein vergeblicher Kampf.« Sein Fazit: Alter, Gewicht, Melaninmangel seiner Haarwurzeln und seine unüberhörbare Ronchopathie sprachen offensichtlich in ihren Augen eindeutig gegen ihn.

Thomas Palzer reagiert auf die ihn ernüchternde Äußerung seiner ehemaligen Partnerin, indem er diese kreativ transformiert, eine Verarbeitungsweise, die jedem Gekränkten zu empfehlen ist. In »vier Séancen«, so nennt der Autor die Kapitel seines Büchleins, »wird der Geist der verlorenen Liebe beschworen«.

Bei Flaubert findet er die Einsicht, dass man sich in Ermangelung des Wirklichen mit der Fiktion trösten könne.

»Was lässt sich beim Lesen alles vorstellen? Und was beim Schreiben?

Und welchen labyrinthischen Gedankengängen ist es zu verdanken, dass sich ihnen bis an Orte folgen lässt, zu denen noch niemand vorgedrungen ist?« (Thomas Palzer)

Der Raum der Intimität besteht in der Fantasie und ist auf sie angewiesen. Thomas Palzer fragt, woraus das Innen der Körper eigentlich besteht. Seine Antwort: Unsere Körper bestehen aus Sympathien, Wünschen, Fantasien, Begierden, Abneigungen, Scham und Lust.

In dem Kapitel „Der intime Raum“ geht der Autor anhand mehrerer Werke der Weltliteratur (u.a. »Die gefährlichen Liebschaften« von Choderlos de Laclos, »Geschichte meines Lebens« von Giacomo Casanova und »Leiden des jungen Werther« von Goethe) auf die Besonderheit der literarischen Gestaltung von Intimität ein.

Die Konkretion des intimen Erlebens ist für jeden, sogar für den literarisch Versierten riskant. Wer es versucht, klingt schnell nach Freddy Quinn, warnt der Autor und lässt die Finger davon. An sich selbst erhellt er, dass unsere Zeit immer mehr zu einer autobiografischen Zeit wird. Ich spreche über mich, ich schreibe über mich, also bin ich! Genau das demonstriert Palzer, indem er seine Lebensgefährtin zitiert und seine darauf folgende Reaktion, wenn auch augenzwinkernd, beschreibt.

Für sie wie für ihn gilt der Satz von Wallace Stevens, dass »ohne die Welt in unserem Inneren ....die Welt um uns herum trostlos« wäre. An seiner Innenwelt lässt er uns Anteil nehmen, während die seiner Gefährtin weitgehend im Ungefähren bleibt. Immerhin erfahren wir Leser, dass die Beziehung durch wechselseitig gesunkenes Interesse, wachsende Selbstbezogenheit und häufige Streitereien schon seit geraumer Zeit vor dem ominösen Satz belastet und verkompliziert wurde.

Das Innenleben der Menschen spielt, das lässt sich von der Entdeckung des Gefühls vor etwa zweihundert Jahren bis heute verfolgen, eine zunehmend größere, ja geradezu eine privilegierte Rolle. Letztlich geht es um das wahre Selbst, um Authentizität, was die Gefahr der Selbstentblößung mit sich bringt. Dieser Gefahr ist sich der Autor bewusst. Es gelingt ihm, die Falle, die er sich mit dem Satz »Du bist mir zu alt« gestellt hat, durch soziologisch-philosophische Überlegungen zum Verhältnis von Sexualität und Alter in einer Zeit, in der »das gesellschaftliche Bild von Sexualität mit jungen, schönen Körpern verknüpft ist«, zu umgehen.

In »Vergleichende Anatomie« ist die Gratwanderung beim Schreiben über intime Erlebnisse und die Geschichte der Trennung des Autors gelungen. Er schreibt im Vorspann: »Eine Geschichte ist, um Geschichte zu sein, notwendig abgeschlossen. Auch die Liebe, um die es hier geht, ist abgeschlossen.« Gelingende Sexualität, macht er sich und den Leserinnen und Lesern klar, beruht auf sozialem Verhalten und auf Verhandlungen. »Nein«, wie immer es motiviert ist und begründet wird, heißt »nein«. Das gilt auch für den Satz: »Du bist mir zu alt.«

»So what«, sagt sich der Rezensent nach der Lektüre des Buches. Das Leben ist so. Man muss damit fertig werden. Das Leben geht weiter! Dass es und wie es weiter geht zeigt exemplarisch dieses knapp hundertseitige Buch aus dem Frühjahrsprogramm des Verlags Matthes&Seitz Berlin.

Fotos:
Cover und Zeichnung © Verlag

Info:
Thomas Palzer, Vergleichende Anatomie; Matthes & Seitz 2018
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