ta 2018 4 Blutenweg 020„Philosophie Magazin“: Themenheft „Wandern“

Thomas Adamczak

Darmstadt/Otzberg (Weltexpresso) - Das »Philosophie Magazin« präsentiert in diesem Sommer eine Sonderausgabe zum Thema »Wandern«. Schlägt man die letzte Seite dieses Sonderheftes auf, beeindruckt die Fülle der angegebenen Quellen sowie der weiterführenden Literatur zu diesem Thema, darunter das bemerkenswerte Buch »Lob des Gehens« des französischen Soziologen David Le Breton (Matthes & Seitz, 2015).

Es ist in der Tat erstaunlich, wie viele Philosophen und Schriftsteller sich mit der Bedeutung des Gehens im Allgemeinen und für sie persönlich auseinandersetzten. Eine Vielzahl an Essays, Gesprächen mit Experten, Texten und Textauszügen und aussagekräftigen Zitaten konfrontiert die Leserinnen und Leser in dieser Ausgabe des Magazins mit der Bedeutung des Gehens/Laufens.

Das von renommierten Philosophen und Literaten Vor-Gedachte kann nach-gedacht, also nachvollzogen werden, es kann aber auch, und darin liegt der eigentliche und besondere Reiz dieser Ausgabe, ermutigen, im Sinne Immanuel Kants sich gehend intensiver, als vielleicht bisher geschehen, bewusst zu machen, was da eigentlich passiert im eigenen Kopf während des Gehens, ob beim Spaziergang, dem Flanieren oder Wandern, um die Vielfalt dessen, was mit dem Gehen verbunden werden kann, anzutippen.

Versucht man sich die Bedeutung des Gehens für sich selbst einigermaßen bewusst zu machen, kann ein konstruktiver fiktiver Dialog zwischen Leserin/Leser und den unterschiedlichen Autoren des Magazins entstehen.

Welcher Autor, welches Zitat aus dieser Ausgabe des Magazins spricht Sie persönlich am meisten an, würde ich Sie fragen, wenn wir beide auf einer längeren Zugfahrt im gleichen Abteil säßen und beide dieses Sonderheft läsen. Da Sie, werte Leserin, werter Leser, nicht zusammen mit mir in der Transsibirischen Eisenbahn sitzen, was eigentlich schade ist, wollen Sie bestimmt von mir, dem Rezensenten, wissen, welche Textauszüge, Passagen in den Gesprächen, Zitate denn mich am meisten angesprochen hätten.

Natürlich antworte ich gern auf eine solche Frage, hätte sie auch bereitwillig beantwortet, wenn Sie mir diese Frage in dem Zugabteil gestellt hätten. Mit dieser Entscheidungsfrage konfrontiert, käme ich zunächst auf »Der plötzlich Spaziergang« von Franz Kafka zu sprechen, übrigens einer der am weitesten hinten platzierten Texte des Magazins.

Franz Kafka entwirft in dieser kurzen Geschichte in der Möglichkeitsform ein Vorstellungsbild der Eventualitäten. Man könnte, so der Protagonist der Geschichte, es ist übrigens Abend, der »Hausrock« längst angezogen, das »Nachtmahl« beendet und es geht eigentlich nur noch darum, ob »jene Arbeit oder jenes Spiel vorgenommen« wird, »nach dessen Beendigung man gewohnheitsmäßig schlafen geht«, draußen zudem »unfreundliches Wetter« ist, »welches das Zuhausebleiben selbstverständlich macht«, dennoch einfach noch mal aufstehen, »den Rock wechseln«, die Wohnung verlassen und durch die »langen Gassen« der Stadt sich treiben lassen - stellen wir uns dazu Prag Anfang des 20. Jahrhunderts vor - und anschließend, wenn es einem danach zumute ist, einen Freund besuchen.

Kennen wir vergleichbare Situationen nicht zuhauf? »Ich könnte eigentlich noch mal da oder dorthin gehen. Nehme ich den Wagen, oder gehe ich zu Fuß?« Oder: Gehen könnte man mal wieder, einfach mal ein bisschen gehen und durch dieses Viertel, jene Gegend schlendern.

So, wie hier auf die Geschichte von Kafka in gebotener Kürze eingegangen wurde, könnte man bei vielen, wenn nicht den meisten Beiträgen des Magazins ins Nachdenken und anschließend ins Gespräch kommen. Genau das dürfte schließlich die Intention einer solchen Publikation sein, die zu Recht den Anspruch hat, als »Philosophie Magazin« zu gelten.

Erhellend ist zum Beispiel das Gespräch mit dem Hirnforscher Gerd Kempermann, in dem zwischen diversen Denkweisen beim Gehen differenziert wird. Er unterscheidet tagträumerisches, assoziatives, kreatives Denken, bei dem Vorstellungsvermögen und Fantasie aktiviert werden, und das grübelnde, wenn nicht gar analytische Denken, dem es vorrangig um Problemlösung geht.

Eine auf die Umgebung des Wandernden bezogene Unterscheidung findet sich übrigens bereits bei Heinrich von Kleist, der festgestellt haben will, dass die Enge des Gebirges beim Wandern das menschliche Gefühl anspricht, während die »Weite des platten Landes« mehr auf den Verstand wirke.

Regelmäßiges Gehen, betont Kempermann, sei wie ähnlich intensive körperliche Aktivitäten der Gesundheit förderlich und »sogar lebensverlängernd«. Das assoziative Denken beim Gehen, das man sich als ein »Baumelnlassen des Geistes« vorstellen kann, kennen die meisten von uns. Einfach mal den Gedanken nachhängen! Wann gelingt das einem am besten? Probieren Sie es doch mal wieder aus!

Höchst bedauerlich, dass man dazu zum Beispiel nicht mehr Immanuel Kant befragen kann, der jeden Abend um 19:00 Uhr seinen täglichen Spaziergang unternahm. Immer denselben Weg, dieselbe Strecke gehend. Was mag er dabei gedacht haben? Wie mag er dabei gedacht haben? Hat er über das nachgedacht, was er an dem Tag geschrieben hatte, oder sind ihm gänzlich neue Gedanken gekommen, Inspiration also für den nächsten Schreibtag?

Simone de Beauvoir, um auf eine weitere Autorin in der Sonderausgabe zu sprechen zu kommen, verweist in ihrer Autobiografie »In den besten Jahren« auf ihren starken Willen, »der in meinen fanatischen Wanderungen zum Ausdruck kam«. »Ich hatte nie Sport getrieben, umso mehr Freude machte es mir, das Letzte aus meinem Körper herauszuholen, seine Kräfte so geschickt wie möglich zu nutzen.« »...wenn ich mir nur ein einziges Mal gesagt hätte: Wozu eigentlich?, hätte ich das ganze System zerstört, das mein Vergnügen in den Rang heiliger Verpflichtung hob.« Anfangs ging sie in Marseille, wo sie eine Stelle als Philosophielehrerin antrat, 5-6 Stunden, um die Stadt und die Umgebung zu erkunden, steigerte den Umfang allmählich auf 9,10 Stunden. »Manchmal schaffte ich 40 km.« So erwanderte sie die ganze Gegend und stieg dabei auf sämtliche Berge, die von der Stadt aus zu erreichen waren.

Welch ein Kontrast zu Walter Benjamin, der in Paris den Typus des Flaneurs für sich entdeckte. »Der Müßiggang des Flaneurs ist eine Demonstration gegen die Arbeitsteilung. « »Das Gehn gewinnt mit jedem Schritt wachsende Gewalt; immer geringer werden die Verführungen der Läden, der bistros, der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke, einer fernen Masse Laubes, eines Straßennamens. «

Alexandre Lacroix stellt in seinem Beitrag das Konzept und die Grundregeln der »Psychogeographie«, der Kunst des Umherschweifen, vor, dessen Anhänger den Anspruch vertreten, dass Umherschweifen eine künstlerische Dimension haben sollte, indem Anekdoten festgehalten werden oder Gedichte und Skizzen entstehen. Auch Fotos können ein Ergebnis des »psychogeographischen Umherschweifens« sein.

Jean-Jacques Rousseau liebte das gemütliche Gehen, und Balzac machte sich gar über Menschen lustig, »die aus Gewohnheit schnell gehen«. Diese Menschen, liest man erstaunt, sinken für ihn auf »das geistige Niveau eines Balletttänzers« herab.

Die Schriftstellerin Thea Dorn ist geneigt, »im Wandern etwas Widerständiges zu sehen, weil ihm das Moment der Unberechenbarkeit, der Anarchie nicht auszutreiben ist«. Solche Beispiele, die um viele andere erweitert werden könnten, dürften genügen, um verdeutlicht zu haben, welche bemerkenswerten und erstaunlichen Denkbewegungen und Denkergebnisse dem Gehen/Laufen/Wandern zu verdanken sind.

Verwiesen sei noch auf die vielen politischen Protestmärsche wie den »Salzmarsch« (1930) von Mahatma Gandhi, den Protestmarsch von Martin Luther King auf Washington (1963), Maos »Langen Marsch« (1934) oder »Womens’s March« (2017) und den »Marsch der Gerechtigkeit« (2017) in der Türkei. Das Gehen zusammen mit möglichst vielen anderen hat eine lange Tradition als politische Protestform und Protestaktion.

Zum Abschluss sei verwiesen auf Max Frisch, der für die Neue Zürcher Zeitung 1936 einen Artikel »Vom Wandern« veröffentlichte, in dem er das Wandern als innere Pilgerreise beschrieb: »Vielleicht hat der liebe Gott gerade darum unsern Schritt nicht größer gemacht, damit wir nicht immerzu an der Welt vorüber gehen.«



b wandernphiloFoto:
Cover des Sonderheftes des Philosophie Magazins


Info:


Info: https://philomag.de/wandern-die-wege-der-gedanken/
https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/lob-des-gehens.html
https://www.weltexpresso.de/index.php/buecher/5286-lob-des-gehens