k lettreLettre International Nr. 124

Konrad Daniel

Leipzig (Weltexpresso) - Lettre International Nr. 124 feiert den Frühlingsbeginn und erscheint punktgenau am 21. März 2019, zur Leipziger Buchmesse. Das neue Heft liegt ab sofort bereit im Buchhandel, am Kiosk, an Bahnhöfen, Flughäfen oder ab Verlag.

Was erwartet Sie?

Ein Spaziergang mit Sokrates durch Athen; ein Hurra für das fabelhafte Großbritannien; eine Reportage aus einem Polizeistaat der Zukunft; eine Meditation über Wüste und Weltgeist; ein Handbuch für kämpfende Frauen; eine Kritik multikultureller Identitätspolitik; Analysen zur deutschen Demokratiegeschichte und Bayerischen Räterepublik 1919; eine Geschichte der europäischen Stadtkonzepte; Schlaglichter auf den Prager Frühling 1968; Reflexionen zum kolonialen Erbe und der Rückgabe angeeigneter Kulturobjekte, ein subversiver literarischer Doppelagent im Oberkommando der Wehrmacht; Studien zu Kunst und Leben bei Leonardo da Vinci, Alberto Giacometti und Andy Warhol sowie Josip Vaništa.
Und vieles Schöne und Spannende mehr!


HORIZONTE

Sokrates lebt in den Gassen von Athen. Dort geht es drunter und drüber, daß einem schwindlig wird. Sokrates irrt durch die Denkwege seiner Freunde und Gegner und sucht nach Ausgängen. Er fragt: Welche Meinung ist die richtige im Durcheinander der Behauptungen? Oben habe ich den Überblick. Ich überschaue die Lage, nehme mehr wahr, als ich brauche, bin im Luxus, im Überfluß der Informationen. Doch bleibt keine Zeit zum Genießen. Ich bin in Eile. Das Handeln drängt, die Unterscheidung und Entscheidung, was wichtig und was überflüssig ist. Was ist die Hauptsache: Überlegenheit, Anerkennung, Genuß, Einsicht, Freiheit, Gerechtigkeit, Freundschaft? Und was bleibt von der Philosophie? Durch Gedankenlabyrinthe eines Meisterdenkers tastet sich Hannes Böhringer: Übrigens und überhaupt.

Der Ethnologe Fritz W. Kramer war Feldforscher in Neuguinea und Indien, in Kenia und im Sudan. In der hitzigen Debatte um koloniale Raub- und Beutekunst und legitime Restitutionsrechte beschreibt er vielfältige Wege afrikanischer Kunst nach Europa. Jenseits der Aneignungspraktiken von Soldaten, Forschern, Sammlern, Dieben und Plünderern wurden Kunstwerke auch gehandelt und getauscht. Afrikanische Werkstätten produzierten schon vor Jahrhunderten für lokale und regionale Kunstmärkte, manch afrikanische Könige handelten mit Kunst, Werke wurden nicht nur für rituelle Praktiken, sondern auch für internationale Kunden hergestellt. Einblicke in frühe transnationale Kunstmärkte und ein Plädoyer gegen die Simplifizierung einer komplexen Vergangenheit: Koloniales Erbe – Afrikanische Künste, transkultureller Tausch und ethnologische Sammlungen. „Denn in den aktuellen Debatten erscheinen die Kolonisierten, heute meist ‘Herkunftsgesellschaften’, besser wohl ‘Urhebergesellschaften’ genannt, noch immer lediglich als Objekte und Opfer europäischen Handelns. Das kommt der Erinnerungskultur entgegen, verkennt aber, daß die kolonisierten Gesellschaften sich selbst, außer in Fällen von Gewalt, Raub und Plünderung, wie Ethnologen und Historiker seit langem betont haben, als handelnde Subjekte mit eigener agency, eigener Handlungsmacht gesehen haben und sehen. Zumindest die ihnen verbliebenen Spielräume verstanden sie geschickt auszunutzen. Nicht weniger einseitig und bedenklich scheint mir, daß in den aktuellen Debatten stets stillschweigend unterstellt wird, die ethnographischen Objekte hätten in den Urhebergesellschaften eben den Status gehabt, den man in der europäischen Moderne Kunstwerken und anderen Museumsexponaten zuschreibt, nämlich sie für den Blick der Zukunft aufzubewahren.“

Der englische Schriftsteller James Woodall besichtigt Großbritannien, Landschaften der Zerstörung, stellt einen Niedergang der Sprache fest, konstatiert Stumpfsinn in Zeitungen und Fernsehen, benennt politische Führer, die sich vor der verantwortungslos angerichteten Katastrophe feige verdrücken. Mangel an Welterfahrung und Haß auf das Anderswo maskieren sich als Patriotismus. Großbritannien ist durch Klassen definiert, kulturell, sozial und geographisch gespalten, es gründet auf Ungleichheit. Die Elite besucht Privatschulen, kommt von Eaton, Harrow, Westminster. England ist ein fast vollkommen zentralisiertes Land, Macht, Reichtum und Zynismus ballen sich im Finanzzentrum London, London ist proeuropäisch, London ist bei vielen verhaßt. Und nun bauen die Briten eine Mauer. Brexit! Wie konnte das geschehen? „Die Engländer sind Arkadier. Sie glauben an ein Land der Einfachheit, von idyllischer Ordentlichkeit, stilles Grasen in heiligem Nebel und blättrigem Grün, frei von Fremden und Eindringlingen, entschieden frei von Komplexität. (...) Es handelt sich – und das im 21. Jahrhundert! – um den absurden Glauben, daß wir wichtiger waren und sind, daß wir einfach besser sind als irgendeine andere Nation. Das ist die Losung des imperialistischen Lagers, das geschwollene Entzücken eingefleischter Nationalisten, das Einstimmen in ein Hurra für das fabelhafte Großbritannien, voll fiebrigen Verlangens, frei zu sein von strafenden, lauernden Institutionen, von der Europäischen Union, die die britische ‘Unabhängigkeit’ behindern – von Brüssel aus ...“ Ein wutentbrannter Heimatbesuch: Arkadianismus.

China hat in der Provinz Xinjiang ein nie gesehenes Überwachungssystem und Konzentrationslager für Uiguren errichtet. Anonymus hat die Region bereist und erlaubt seltene Einblicke in eine abgeblendete Welt. Er besucht einen Polizeistaat der Zukunft. Xinjiang bedeutet auf Chinesisch „neue Grenze“. Seit alters siedeln dort die Uiguren – eine türkische Ethnie. Die entlang der Wüste verlaufende Seidenstraße verband hier eine Reihe von Oasenstädten, die viele Karawanen-Tagesreisen voneinander entfernt lagen. Die Entfernungen erlaubten den dort siedelnden Völkern, Uiguren, Kirgisen, Kasachen, Tibetern und Russen, recht friedlich zu koexistieren; die Nähe zum großen Handelskorridor gewährleistete kulturelle Verbindungen zum Westen, nach Indien, China und Persien. Die früher übliche Bezeichnung des Gebiets als Ost-Turkestan konfligierte über Jahrhunderte mit den Versuchen Pekings (eineinhalbmal so weit entfernt wie Bagdad), es zu unterwerfen. „Von Zeit zu Zeit flammten Aufstände oder Stammesfehden auf, die die Region in ein Blutbad tauchten, oder es kam zu Interessenskonflikten mit den Großmächten. Dann kam Ost-Turkestan in die Leitartikel der Zeitungen. Ansonsten war Ost-Turkestan die meiste Zeit nach dem Ende der chinesischen Okkupation 1949 in Vergessenheit geraten. Anfang der 2000er bedeutete eine Reise nach Kaxgar, die der kirgisischen Grenze nächstgelegene Stadt, sich auf einen Schlag in die Welt von Tausend und einer Nacht zu versetzen; in diesem gottverlassenen Nest lebte man der eigenen Tradition gemäß und im eigenen Lebensrhythmus: Sobald sich die nach Pekinger Zeit lebenden chinesischen Arbeiter schlafen legten, begann man im alten uigurischen Zentrum mit dem Abendessen. Langsam strömten die Menschen aus der zentralen Moschee. Sie trugen Kaftane, hatten lange Bärte, kniehohe Stiefel und hohe Mützen mit Fellbesatz. Die Frauen hatten schwarzgefärbte Brauen, die Männer trugen Messer in den Gürteln, auf dem riesigen Markt wurde mit Teppichen, Schafen, getrockneten Eidechsen und Schlangen gehandelt; in den Straßen rasierten Barbiere ihre Kunden, Hufschmiede beschlugen die Pferde mit Eisen. Doch das neue Leben zog von allen Seiten herauf, und das chinesische Viertel, das einmal am Rand gelegen hatte, bildete jetzt einen die alten Bauten der Altstadt unbarmherzig zusammenpressenden Ring. Gegen die Sinisierung der Region regte sich muslimischer Widerstand. Es gab blutige Anschläge auf Einheimische, Touristen und Institutionen.“ Manche Uiguren traten internationalen terroristischen Gruppierungen bei. Peking hingegen schloß sich dem „Krieg gegen den Terror“ an. Heute herrscht in Xinjiang starke Repression, Oppositionelle verschwinden, Hunderttausende, vermutet man, wurden in Umerziehungslager gesteckt, Computer, Handys, Telefonkommunikation werden ausgeforscht; flächendeckende Videoüberwachung mit elektronischer Gesichtserkennungssoftware überzieht die Städte, oppositionelle Blogger und Webadministratoren werden verhaftet. Man bezeugt Hinrichtungen und spricht von Massenerschießungen. Ein „Soziales Kreditsystem“ für alle Bürger wurde etabliert, bei dem jeder Staatsbürger ein Konto mit Loyalitätspunkten erhält, dessen Punktezahl sich durch Wohlverhalten steigern läßt oder durch verwerfliches Verhalten reduzieren kann. Die neu entwickelten Programme teilen die Gesellschaft in „ungefährliche“, „normale“ und „gefährliche“ Bürger. In Xinjiang steht jeder Einwohner praktisch ununterbrochen unter Beobachtung: Ein futuristischer Alptraum nimmt Züge einer blutigen Antiutopie an.

In seinem Essay Wüste und Weltgeist beantwortet Ingo Klamann die Preisfrage: „Ist Globalisierung denkbar ohne zerstörerische Folgen?“ Globalisierung ist für ihn ein vieldeutiger Begriff, der den modernen Menschen so einschüchtert wie einst die „Erbsünde“ den Gläubigen. Das Wort „Globalisierung“ breitete sich in dem Vakuum aus, das der Zerfall der bipolaren Weltordnung zurückgelassen hatte. Für die selbsternannten Sieger dieser ausgesessenen Konfrontation ermöglicht es der Begriff, das eigene Handeln mit der Zwangsläufigkeit von Naturgesetzen zu begründen. Und doch können wir die Globalisierung auch als Kraft begreifen, die in ihrer allumfassenden Wucht und Unausweichlichkeit Unvorhergesehenes schaffen wird. Auch wenn ihre treibenden Kräfte Konkurrenz und wechselseitige Vorteilsnahme und sogar Ausbeutung sind, ist es zwingend, daß in diesem neuen Geflecht etwas entsteht, das ihrer ursprünglichen Zielrichtung widerspricht. „Globalisierung ermöglicht globale Strukturen. Globalisierung schafft globales Bewußtsein. Jeder zweite Mensch auf der Erde hat die Möglichkeit, über das Internet mit einem beliebigen anderen Menschen unmittelbar zu kommunizieren. In der geographischen Ausdehnung und kulturellen Durchdringung dieser Kommunikationsräume wird ein Weltgeist entstehen, der im wörtlichen Sinn undenkbar ist.“


KLARSTELLUNGEN

Die italienische Philosophin Cinzia Sciuto hinterfragt Multikulturelle Fallen. „Identität“ ist für sie eines der meistgebrauchten und meistmißbrauchten Wörter heute. Jeder reklamiert sie, beschwört sie, verlangt Anerkennung und Respekt. Nicht selten ist die Proklamierung einer Gruppenidentität Mittel zur Durchsetzung eigener kollektiver Normen und Interessen und der Selbstimmunisierung gegen Kritik. Abweichler von der kollektiven Identität werden zu Ketzern gemacht. Identitäre Abschottung durchdringt heute auch den Multikulturalismus. Dieser ist nicht mehr eine bunte Begegnung von Traditionen, Bräuchen, Speisen, Kleidungen, Kultur und Musik sondern zumeist Formel zur Verteidigung eigener Gruppenrechte. Ein laizistischer Staat aber sollte nicht Gruppen, sondern den Einzelnen und seine Autonomie gegen alle Forderungen nach identitärer Reinheit verteidigen. Ein Fehdehandschuh gegenüber einem in der multikulturellen Pose versteckten Fundamentalismus.

„Kampf!“ Die britisch-kenianische Autorin Priya Basil präsentiert ein feministisches Handbuch. Was ist eine Feministin? fragt sie und versammelt Definitionen, Interpretationen, kontroverse Positionen. Sie stolpert über Widersprüche, hinterfragt gängige Vorstellungen. Sie findet hundert Antworten, aber keine einzige erschöpfende. Eine kämpferische Haltung allerdings verkörpert für sie im Kern den Begriff der „Feministin“: Kampf! Ein Kompaß zu epidemischer, geschlechterbezogener Macht und eine Trainingsanleitung zur Selbstermächtigung der Frauen. „Und am schwersten ist immer der Kampf nah am Herzen, an jenem Pulsschlag, wo Liebe und Loyalität auf Urteil und Theorie prallen, wo alte Bindungen und Zuneigungen mit neuen Überzeugungen und guten Absichten kollidieren. Das sind die stillen Schnittstellen des feministischen Kampfes, der persönliche Ort der Auseinandersetzung, der Unschlüssigkeit, der Verzweiflung – und manchmal auch der sublimen Momente von Emanzipation.“


GESCHICHTSSTUNDEN

Die Aufmerksamkeit zum 100. Jahrestag der deutschen demokratischen Revolutionen 1918/19 fokussiert sich auf Berlin als Zentrum der Erhebungen gegen das Kaiserreich. In Bayern allerdings wurde schon zuvor, am 8. November 1918, die Monarchie gestürzt und der „Freistaat“ ausgerufen. München war das geistige Zentrum der Räterepublik. Es war Fluchtpunkt überlebender und heimatloser Soldaten. Es gab Kontakte zur revolutionären Sowjetunion. Doch sammelten sich hier auch Geld und Gesinnung emigrierter russischer Aristokraten und versprengter Offiziere der Weißen Armee. Hier fusionierten russischer Antisemitismus und deutsch-völkische Ideologie. Karl Schlögel rekonstruiert die brodelnde Szenerie der Bayerischen Räterepublik und die Verschwörungen der Gegenrevolution: München toxisch

Während die philosophischen Köpfe der berühmten Revolutionen wie der englischen, der französischen, der russischen oder der gescheiterten deutschen wohlbekannt sind, kennt kaum jemand die Protagonisten der bayerischen Revolution von 1918/19 – Mitglieder der literarischen Bohème, Theatermacher, Pazifisten, Anarchisten, radikale Sozialisten. Barbara Kuon vergegenwärtigt geistige Horizonte der Münchener Räterepublik. Ob Anarchisten oder Kommunisten: „Alle Revolutionäre stehen letztlich in der philosophischen oder mystischen Tradition der individuellen Revolution, der Selbsttransformation zu einem gemeinsamen Individuum – zu einer Figur, mit der sie ihr Publikum, ob freundlich oder feindlich gesinnt, faszinieren.“ So auch die Münchener Protagonisten, der Ministerpräsident des Freistaats Kurt Eisner, Erich Mühsam, Gustav Landauer, Ernst Toller. Sie bahnten den Weg zur Republik. „Am Tag seiner Ernennung hatte Landauer in einem Brief geschrieben: ‘Ich bin nun Beauftragter für Volksaufklärung, Unterricht, Wissenschaft, Künste und noch einiges. Läßt man mir ein paar Wochen Zeit, so hoffe ich, etwas zu leisten; aber leicht möglich, daß es nur ein paar Tage sind, und dann war es ein Traum.’“ Es blieb ein Traum. Einer wird viele. Räterepublik Baiern – Ein gemeinsames Individuum auf tausend Beinen.

Einen Kriegschronisten im Oberkommando der Wehrmacht und subversiven Doppelagenten der Literatur porträtiert Jannis Wagner: den in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs verschollenen Felix Hartlaub. Hartlaub war damit beauftragt, das offizielle Kriegstagebuch (KTB) des deutschen Heeres zu führen. Nachts und im Verborgenen verfaßte er Texte, welche die grausige Realität von Nationalsozialismus und Krieg hinter der Verlautbarungssprache schonungslos enthüllten. „Diese präzise Vivisektion von Sprache und Denken in der totalitären Diktatur fand ausgerechnet in ihrer legendenumwobenen Herzkammer statt, der mobilen Institution ‘Führerhauptquartier’ und ihren Niederlassungen in schwerbewachten ‘Sperrkreisen’.“: Doppelbelichtungen.

Evgen Bavčar, Schriftsteller und Photograph, ist blind, und seine Fähigkeit, sich Objekten mittels Beschreibungen, Gehör, Geruch, Tastsinn zu nähern, verleiht seinen literarisch festgehaltenen Eindrücken besondere Intensität. 1968 war der Slowene, der mit Prager Dichtern, Künstlern und Intellektuellen befreundet war, Zeitzeuge der Niederschlagung des Prager Frühlings. Durch Slowenien rollten die sowjetischen T-55-Panzer in Richtung Prag. Nach Slowenien flüchteten viele aus der tschechischen Hauptstadt, um sich vor der Besatzungsmacht in Sicherheit zu bringen. Paris wurden zum Exil mittelosteuropäischer Künstler und Intellektueller. Aus vielen Gesprächen und Erinnerungen an den Versuch, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen, destilliert Bavčar ein eindringliches Bild des Geschehens: Panzer und Bajonette.


KÜNSTLERLEBEN

Zum 500. Mal jährt sich 2019 der Todestag Leonardo da Vincis. Der Maler, Musiker und Ingenieur vollzog Gedankenflüge unerhörter Spannweite. Er eroberte Geologie und Mineralogie, Optik und Akustik, Ballistik und Hydraulik, Mathematik und Astronomie, Anatomie und Embryologie; er war Unterhalter bei Hofe, Musiker, Rhapsode, Theater- und Festspielleiter, Dandy, Maler und Architekt, Baumeister, Bildhauer und begnadeter Zeichner. Sein einzigartiges kulturelles Erbe wurde zur Beute obskurer Gestalten und in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Doch noch Mitte des 20. Jahrhunderts tauchte Verschollenes wieder auf, und es ist, als ob eine unsichtbare Hand das weithin Verlorene Stück für Stück wieder einsammelte, den Wächtern des kulturellen Gedächtnisses zu treuen Händen. Wer war dieses Universalgenie der Renaissance? Wer war Mutter, wer Vater des unehelichen Kindes? Interpretierte Sigmund Freud seine Kindheitserfahrungen zutreffend? Der Kulturwissenschaftler Franz Maciejewski begibt sich ins Labyrinth des kulturellen Gedächtnisses, versammelt neue Erkenntnisse und bestaunt künstlerische Werke als Wunder der Gewalt.

Der New Yorker Künstler, David Salle, porträtiert Andy Warhol als Maler des modernen Lebens. Warhols Karriere begann in der Werbewelt mit gezeichneten Illustrationen zur Verzauberung der Konsumenten; er konnte Konsumartikeln den Anschein von Witz und Eleganz verleihen. Seine anfängliche Ästhetik drückte sich mittels der Linie aus, für akademische Modellierung, Schattierung, den Aufbau von Volumina, Kompositionszusammenhänge zeigte er wenig Interesse. Doch er hatte ein Gefühl dafür, wie er seine Linie stilisieren und einsetzen konnte, um eine Geschichte zu erzählen. Dann entdeckte Warhol die graphische Wucht des Siebdruckbildes. Es verband Struktur und Rhythmus, ist mechanisch und expressiv zugleich. Es macht jeden Gegenstand zu einem Drama aus Licht und Schatten, das im Jetzt des photographischen Augenblicks gründet. Die elektrisierende Macht der Photographie überwältigte Warhols handgemalten Stil, und Ende 1961 war die Verwandlung abgeschlossen. Warhols Bilder führen den Glamour der Berühmtheit in unmittelbarer Nachbarschaft zum amerikanischen Alptraum vor: Autounfälle, elektrische Stühle, Rassenunruhen. Das Blitzlicht erhellt alles gleichermaßen. All dies hängt unauflösbar zusammen. Warhol kultivierte gegenüber dieser Bilderwelt eine radikale Offenheit, wie auch gegenüber den Geistes- und Lebenszuständen, die diese Photos festhalten. Die Bilder von Rassenunruhen aus 1963 und 1964 zusammen mit Selbstmorden und anderen Katastrophen zeigen ihn als scharfen Gesellschaftskritiker. Diese Bilder schockieren mit ihrer beiläufigen Brutalität und sie bringen die Wirklichkeit der Straße ins Museum. Warhols Death-and-Desaster-Bilder alleine schon würden den Künstler zu einer bedeutenden Figur in der Geschichte der Kunst machen. Der Siebdruckstar

Paris, Place de Clichy. Ein Dauerprovisorium, eine Bricolage von Künstlerateliers. Vermietet wurde per Handschlag, elektrische Leitungen lagen frei, im Winter war es eisig, Licht fiel durch gesprungene Fensterscheiben, Schlüssel gingen von Hand zu Hand, Leute kamen und gingen, nüchtern und delirant. Hier arbeitete der noch unbekannte Alberto Giacometti. Jahre später taucht jemand auf und will sie haben, die Tür zu Giacomettis Atelier. Mit Pinselstrichen improvisierte Giacometti auf ihr jenen Baum, der bei der Uraufführung von Warten auf Godot als einziges Requisit die Bühne zierte. Becketts Baum. Flohhändler, Sammler, Galeristen umschleichen gierig diese Tür, die nichts war, heute unschätzbar wertvoll und dieser Künstlerkolonie ihre Aura verleiht. Samson Picard, Dauergast dort erzählt Marek Kędzierski ihre Geschichte: Hüter der Tür.

„Hier in Europa geht man manchmal leichthin über wichtige Personen aus meiner vergessenen balkanischen Kultur hinweg ... Das wiederholt sich jetzt nach dem Tod des großen Avantgardekünstlers aus meinem Land, Josip Vaništa ... In der Auseinandersetzung mit anderen avantgardistischen Strömungen auf der Welt war Vaništa hier, in unserem unbeachteten Nirgendwo, stets beseelt vom Geist des Happenings, des Fluxus, des Konstruktivismus und konzeptueller Ideen jeder Art.“ Bora Ćosić erinnert an eine hierzulande vergessene Gruppe grandioser Künstler in Serbien und ihre überragende Gestalt: Das Auge von Vaništa.

Nach der heute akzeptierten Evolutionserzählung kommt alles Leben aus dem Wasser und doch sind sie uns von allen Wirbeltieren am fremdesten: die Fische. Moritz Klein betrachtet sie in jenen Rollen, die sie in der Kultur spielen: als allegorische Verkörperungen eines unpersönlichen Naturprinzips, als Sinnbild für das Monströse, Unheimliche der Natur; als Motiv in satirischen, moralisierenden Darstellungen, als Vorbilder für Phantasiewesen, wo das Groteske beginnt, ins Wunderbare überzugehen, und schließlich als Medium utopischer Sehnsucht. Ein Blick auf das Verhältnis der Menschen zur Natur – und Skizze zu einer Poetik, die ein anderes Verhältnis zum Nichtmenschlichen ins Visier nimmt: Im Bild der Fische.

Das Paradies, jenen idealen Ort, der weder von Gewalt noch von der Zeit heimgesucht wird, haben wir verloren, besagt ein uralter Mythos; das Paradies ist diskreditiert durch den Versuch seiner Verwirklichung in der historischen Zeit. Doch, so der Philosoph Burkhard Liebsch, es gibt Freiräume: Die Begegnungen mit Kunst, Musik und Literatur geben uns zu sehen, hören, lesen. Kunstwerke sind Einladungen zu Erfahrungen jenseits der Gewalt der Zeit und der Zeit der Gewalt zu einem ästhetischen Bleiben-Dürfen: Kunst als Gabe sozialer Zeit.


DIE STADT IM 20. JAHRHUNDERT

Konzepte der europäischen Stadt im 20. Jahrhundert schildern die Architekturhistoriker Jörn Düwel und Niels Gutschow. Während kreative Geister Zufall und Tempo, Anonymität und kulturelle Vielfalt in den Metropolen als Quelle ihres Schaffens begriffen, verabscheuten Reformer diese unüberschaubaren Agglomerationen von Menschen und Bauten, die Slums, den sittlichen Verfall, die Atomisierung, das Fehlen von Gemeinschaft. Stadtverachtung erstreckte sich über alle politischen Lager hinweg. Die Charta von Athen 1933, das Konzept „luftsicherer Städte“ in Frankreich, später die Wiederaufbaupläne für Rotterdam, Warschau, Coventry, Dresden und Hamburg, die Idee der Gartenstadt, der Entwurf des Berliner Hansa-Viertels, all diese Konzepte waren von Reformwillen, der Idee einer neuen, lichten, harmonischen Lebensordnung durchdrungen. Mit der Verteufelung der Massenstadt einher ging die Suche nach der „Stadt von morgen“. Als Folge der negativen Erfahrungen mit Flächensanierung und Abrißwut verlor sich jedoch die Strahlkraft der „neuen Stadt“. Anstelle eines gewalttätigen, so geschichtsvergessenen wie zukunftslosen Wiederaufbaus, einer „zweite Zerstörung“, wurde nun die „kritische Rekonstruktion“ zum Leitbild; die neue Stadt sollte fortan die alte sein. Formlose Klumpen – Zur Verachtung der Großstadt.

Stumme Riesen aus Stahl und Stein, Teer und Beton, brutale Dichte und flüchtige Weiten, Maschinen der Tiefe, Maschinen der Horizonte, Statik und Tempo, flüssige Energie und gebündelte Kraft, Kuben, Kurven und Diagonalen, Figuren und Strukturen aus Schatten und Licht. Eine Reise mit weit aufgerissenen Augen durch die Stadtlandschaften von Los Angeles. Urban Jungle – eine Photoreportage von Guillaume Zuili.


BRIEFE, KOMMENTARE & KORRESPONDENZEN

kommen aus New York, Berlin, Wien und Tanger. Tom Engelhardt rekonstruiert die Geschichte der US-Verstrickungen in Afghanistan, blutende Wunde. Alexander G. Düttmann erinnert sich an seinen Enthusiasmus beim Übersetzen der Texte Jacques Derridas gegen die Voreingenommenheit einer sich als kritisch verstehenden Sozial-philosophie in Deutschland: Der naive Übersetzer. Alfred McCoy protokolliert geostrategische Ambitionen der US-amerikanischen Regierung: Wunschdenken und Handelskrieg. Simon-Pierre Hamelin berichtet vom Leben in Tanger, von Träumen, Familienstrukturen, Fluchtversuchen: Nichts hat sich verändert. Herbert Maurer schildert die Einübung in Scheinheiligkeit und Zynismus in der Österreichischen Republik der Ministranten.

Künstlerisch gestaltet wurde das Heft von der spanisch-belgischen Künstlerin Cristina de Middel, Afronauten. „Im Jahre 1964, kurz nach der Unabhängigkeit des Landes, initiierte die junge Republik Sambia ein Raumfahrtprogramm, das den ersten Afrikaner zum Mond befördern sollte, um mit den USA und der Sowjetunion im Wettbewerb um die Eroberung des Weltraums gleichzuziehen. Nur wenige Optimisten unterstützten das Projekt des Schullehrers Edward Makuka. (...) Als Photojournalistin zogen mich exzentrische Ereignisse jenseits der Erzählroutinen immer gleicher Stoffe an. In meinen Projekten respektiere ich die Grundlagen der Wahrheit, erlaube mir aber, die Gesetze der Genauigkeit zu verletzen, wobei ich dazu motivieren möchte, die Machart von Geschichten zu analysieren, die wir als real geschehene rezipieren. Meine Afronauts dokumentieren einen unmöglichen Traum, der nur in diesen Bildern lebt. (...)“


PS: Die Website www.lettre.de bietet Informationen zur Zeitschrift, unseren Kunsteditionen und eine Archiv-Suchfunktion sowie Mediadaten. 
EIN EINHORN FÜR JEDEN – JUBILÄUMSDRUCKE

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Info:
Lettre International Nr. 125 erscheint am 13. Juni 2019.
LETTRES VIERECKIGES OSTEREI