b camilleriDer Bücherzettel für den Sommer 2019 bietet auch interessanten älteren Lesestoff, Teil 3

Katharina Klein

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Uns ging es nach der letztwöchigen Todesnachricht von Andrea Camilleri so, daß wir uns erst einmal alle Romane um Commissario Montalbano zusammensuchten, die verstreut in den Regalen standen, denn mit ihnen hatten wir eigentlich den ersten Kommissar kennengelernt, also einen, der in Serie auftritt, der uns dann durch Sizilien begleitete, aber doch stärker als Regionales durch das Rätsel Mensch, denn dieses Rätsel zu beschreiben und in der Beschreibung zu entschlüsseln war die Stärke dieses sizilianischen Weltschriftstellers.

In den Jahren von Berlusconi haben wir uns echte Sorgen gemacht, wie es Camilleri geht, welchen literarischen Gewinn er aus der politisch desolaten Szenerie Italiens gewinnt; er tat uns nachgerade leid, sich mit solchem Abschaum beschäftigen zu müssen, das noch nicht mal auf dem Niveau des Frankfurter Bahnhofsviertels liegt, sondern weit drunter. Aber heute sind wir da viel stiller geworden, was nicht nur an den derzeitigen italienischen Machthabern liegt, sondern auch an einem amerikanischen Präsidenten, von dem einem fast jede Äußerung peinlich ist und wo man das Fremdschämen so richtig lernen kann. Ach was, würde der weise Camilleri sagen, das geht auch vorbei. Aber was kommt dann?

b gewisseOb sich Camilleri, das was kommt, vorgestellt hat, als er seinen Tod erwarten mußte. 1925 geboren, hat er nicht nur über menschliche Abgründe geschrieben, sondern auch gehörig welche miterlebt. Deshalb wollen wir gar nicht weiter über seine Krimis schreiben, sondern uns das Buch anschauen, daß im Januar 2019 bei Kindler, also im Rowohlt Verlag herausgekommen ist und 2015 in Mailand unter dem identischen Titel CERTI MOMENTI erschienen ist. „Dieses Buch versammelt in ungeordneter Folge, doch mit besonderer Berücksichtigung meiner Jugendjahre, Begegnungen, die wenige Momente oder fast ein ganzes Leben andauerten und eine Art Kurzschluß in mir auslösten. Das heißt, sie führten zunächst zu einer vorübergehenden Distanz und dann zu größerer Helligkeit in meinem Geist.“

Ja, das kennen wir auch, was hier als Kurzschluß beschrieben wird. Seit es das Computerunwesen gibt, bereichert es die Sprache oder könnte es zumindest tun, denn tatsächlich ist so ein Kurzschluß wie ein plötzlich schwarzer Bildschirm, der sich dann wieder erneut im Schriftbild aufbaut, aber eben nicht identisch ist mit dem, wie er vorher war. Es sind Umspeicherungen vorgenommen worden, von uns, in uns, aber ohne unser Bewußtsein, sondern mit Hilfe des Hirns un- und unterbewusst. Solche Prozesse haben Camilleri interessiert und wer über das 20. Jahrhundert mehr wissen will, braucht nur den schmalen Band in die Hand zu nehmen. Da geht es um den jungen Leser von André Gide – wetten, daß heutige Abiturienten nichts mit diesem Namen mehr anfangen können -, der pfiffig die Chance, den angebotenen Kursus für Offiziersanwärter in den Wind schlägt und lieber einfacher Soldat wird, denn: „Befehler kann man immer umgehen.“

Da geht es aber auch um die uns bekannten Autoren Antonio Tabucchi oder Pier Paolo Pasolini, mit dem er sich nicht vertrug und seinen schrecklichen Tod auch nicht. Glauben Sie nur nicht, es ging nur um Männer. Camilleri war ein großer Verehrer des weiblichen Geschlechts, von dem er grundsätzlich mehr erwartete als von seinesgleichen. Und vor allem geht es um die Vereinbarung von politischem Handeln und Schreiben, sowie das Mundaufmachen, wenn es nötig ist. Das Lesen tut auch denen gut, die darüber stöhnen, was in unserem Land auf einmal aus allen möglichen Löchern kriecht und welche menschenverachtende Sprache verwendet wird, um Menschen auseinanderzudividieren.

Doch, es tut gut, Camilleri zu lesen. Der lange Atem ist etwas, was man lernen muß, will einen die Gegenwart nicht auffressen.

Es heißt übrigens, daß Camilleri mit seinem Ableben noch eine gewisse Weise gewartet habe, damit der Schock nicht zu groß ist. Schon lange lebte er in Rom – daß er in Porto Empedocle, dem Hafen von Agrigent, unweit des Geburtshauses vom italienischen Nobelpreisträger Luigi Pirandello, geboren wurde, ist Allerweltsweisheit – und plötzlich stand sein Herz still. Dann stirbt man. Aber wird das sofort beobachtet, kann man es, wie bei Camilleri geschehen, reanimieren. Und dies glückte, so daß in Rom tägliche Berichte über seinen Gesundheitszustand in alle Regionen Italiens geschickt wurde – bis er dann, da die Leute gut vorbereitet waren, doch starb. Mit 93 Jahren, wo man gehen darf.

Trauen Sie sich also auch ruhig schwerere Kost von Camilleri zu, sie ist nie bodenschwer, sondern immer getragen von Hoffnung auf ein besseres Leben für die Menschheit. Es spricht aber auch nichts dagegen, sich die über 24 Romane um Commissario Montalbano reinzuziehen. Tatsächlich gibt’s das heute in Serie, solche Serien, aber für mich war wie gesagt der erste davon ein Camilleri. Fangen Sie also mit seinem Montalbanerstling, der international den Durchbruch brachte an: DIE FORM DES WASSERS, aus dem Verlag Lübbe.
 
Fotos:
© rowohlt.de

Info:
Andrea Camilleri, Gewisse Momente, Rowohlt Verlag 2019
Aandrea Camilleri, Die Form des Wassers, edition Lübbe, Frühjahr 1999