c wanderlustEine Geschichte des Gehens, von Rebecca Solnit; Matthes & Seitz, Berlin 2019, Teil 1/2

Thomas Adamczak

Otzberg/Odenwald (Weltexpresso) -  »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, sagt Kant. Grob betrachtet, lassen sich nachvollziehendes Denken und selbstständiges Denken unterscheiden.

Das vorliegende Buch der Autorin Rebecca Solnit lädt zu beidem ein und ist allein deshalb ein lesenswertes und empfehlenswertes Buch zum Thema Gehen und Wandern. Die Autorin, eine  zeitgenössische amerikanische Essayistin, belässt es nicht beim Gehen bzw. Wandern, sondern kommt im Laufe des Buches, da zeigt sich ihre Lust am essayistischen Schreiben, auf alle erdenklichen Abkömmlinge des Gehens zu sprechen: auf Pilgerreisen, Märsche und Protestzüge, Prozessionen, Paraden, auf städtisches Promenieren und Flanieren und beachtet sogar das Herumlungern als eine reduzierte Form der Fortbewegung.

Gehen ist für uns so selbstverständlich wie Atmen, Sehen oder Hören, doch wir schenken dieser besonderen menschlichen Fähigkeit in der Regel erst dann unsere Aufmerksamkeit, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, eingeschränkt ist.

Vielfalt und Relevanz der Aspekte, die von der Autorin in den vier Teilen des Buches in insgesamt siebzehn Kapiteln ausgebreitet werden, können naturgemäß in einer Besprechung nur beispielhaft angesprochen werden.

Im dritten Kapitel »Aufstehen und Fallen: Die Theoretiker der Bipedie« referiert die Autorin den Stand der wissenschaftlichen Diskussion zu der Frage, wann von der sich entwickelnden Spezies der Rubikon des aufrechten Gangs überschritten wurde. Besonders interessiert die sich damit beschäftigenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Frage, wieso unsere Urahnen zu Zweibeinern geworden sind. Vor 4 bis 5 Millionen Jahren sollen, sagt die Forschung, demnach die Vorfahren der Menschen ihr Verhalten grundlegend geändert und die ersten Schritte mit aufrechtem Gang unternommen haben.

»Gehen bildet einen eigenartigen Dreh-und Angelpunkt in der Evolutionstheorie über den Menschen. Es bildet die anatomische Veränderung, die uns aus dem Tierreich hinausstieß, sodass wir schließlich unsere einzigartige Dominanzstellung auf der Erde erlangten.« (56)

Auf einer Pariser Konferenz über die Ursprünge des Gehens (»Bipedie«) im Jahre 1991 wurden in einer Art Comedy- Programm die aktuellen Theorien über das Gehen präsentiert. Hier fehlt der Raum, um u.a.   »Schlepp-Hypothese«, »Kuckuck-Hypothese«, »Trenchcoat-Hypothese«, »Alles-muss-Hypothese« oder »Zwei-Füße-sind-besser-als-vier-Hypothese« zu konkretisieren. Die zuletzt genannte Hypothese, so viel sei verraten, nimmt an, »dass Bipedie energieeffizienter ist als Quadrupedie, zumindest bei den Primaten, die sich zu Menschen entwickeln« (52).

Der Anatom Owen Lovejoy von der Cleveland State University, ein Experte für die Fortbewegung des Menschen, nimmt an, dass  vor ca. fünf Millionen Jahren »die Männchen begannen, Verpflegung für die Weibchen mitzubringen« (48), wodurch die bestens versorgten Weibchen mehr Junge bekamen, weil die Aufgabe, sich und die Jungen zu ernähren, durch die Aktivität der Männchen geringer geworden war.

Diese Erklärung wird von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht geteilt, was an den oben erwähnten Hypothesen ersichtlich wird. Die Paläontologie komme ihr vor wie »ein Gerichtssaal voller Anwälte«, schreibt Solnit. Alle wedeln mit »Beweisstücken, die ihre Hypothesen belegen, und gleichzeitig die Beweisstücke ignorieren, die ihnen widersprechen«. (53)

Konsens scheint immerhin hinsichtlich der vor allem in Afrika gefundenen Knochen darüber zu bestehen, dass »die Bedeutung der Bipedie für  die Homininen- Entwicklung« nicht genug betont werden kann. »Sie ragt als das entscheidende Merkmal heraus, dass die Vorfahren des Menschen von anderen Primaten unterscheidet. Diese einzigartige Fähigkeit befreite die Hände für unzählige Möglichkeiten - Tragen, Werkzeugherstellung, komplexe Handgriffe.« (Mary Leakey über die in Laetoli gefundenen Fußspuren; in National Geography 1979, S. 453;  sie war  britische Archäologin und eine bedeutende Paläoanthropologin des 20. Jahrhunderts ).

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Info:
https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/wanderlust-ebook.html

siehe auch:
https://www.weltexpresso.de/index.php/buecher/5286-lob-des-gehens