Der Deutscher Buchpreis 2019, Teil 4
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das hatten wir uns geschworen: Das erste Buch, das nach der Bekanntgabe der Zwanzigerliste durch den Börsenverein, der die Entscheidung der Jury nach draußen trägt, woraufhin wir bei den Verlagen nach Rezensionsexemplaren nachfragen, das erste Buch also, das kommt, wird sofort gelesen und besprochen!
Hier ist es und nun wissen wir gar nicht so recht, was wir zum Roman von Raphaela Edelbauer sagen sollen. Schon auf den ersten Seiten geschieht Schreckliches und biographisch nicht Zurückholbares: die junge Icherzählerin und vor der Unikarriere stehende Ruth Schwarz erfährt vom nächtlichen Autounfall ihrer Eltern am Semmering: Erich Schwarz und Elisabeth Schalla und deren Tod. Unwillkürlich fragt sich die Leserin: wie würde ich auf den Tod der Eltern reagieren, auf einen solchen Tod? Und sicher ist lebensnah, daß das Einzelkind Ruth, das in Wien lebt, während die Eltern auf der Rückfahrt aus der alten Heimat nach Wien verunglückten, erst einmal überhaupt nicht reagieren kann, dann in einen bürokratisch-organisatorischen Rausch gerät: Beerdigung organisieren, Bekannt- und Verwandtschaft benachrichtigen. Alles furchtbare Dinge, wer das machen muß, weil einen rationales Handeln vielleicht kurzzeitig aufrecht hält, aber den Schmerz um Tote nicht lindern kann, nur aufschieben.
Was aber dann passiert und was Raphaela Edelbauer unerschrocken und quasi normal, ja kühl wissenschaftlich erzählt, wie es einer angehenden Physikprofessorin – Ruth soll die Antrittsvorlesung halten und schreibt ihre Habil – durchaus zusteht, das kann man mit dem erlittenen Schock nicht mehr erklären. Das fängt schon mit der Geschichte der Eltern an, wo darauf hingewiesen wird, daß die Eltern des Vaters in der Nachkriegszeit kurz hintereinander starben und das Kind in der Familie Schalla wie ein eigenes gehalten wurde, Elisabeth und Erich also als Geschwister aufwuchsen, Erich von Elisabeths Eltern adoptiert wurde, was widerrufen wurde, als sich die beiden verliebten und verehelichen wollten. „Das hatte mich immer am meisten befremdet: Aufgewachsen wie Geschwister; später die Adoption vor dem Familiengericht wieder aufgehoben, um das Inzestverbot zu umgehen. Es hatte etwas Schiefes an sich, obgleich freilich keine Blutsverwandtschaft bestand.“(Seite 24) So geht es auch der Leserin, die das befremdlich findet. Doch im Weiteren wird das geradezu harmlos gegen das, was nun geschieht.
Wir haben das, was nun bis Seite 350 erzählt wird und geradezu unverschämterweise so endet: „Nichts, was im Unklaren verblieben wäre.“, unverschämt, weil alles unklar ist, zumindest für die Leserin, wir haben das also bis zum vorletzten Satz für einen Traum gehalten, einen Albtraum, den man sich nach dem Schock des plötzlichen elterlichen Todes doch so gut erklären kann. Und im übrigen, wir könnten das ja auch jetzt noch behaupten, wir könnten behaupten, daß das folgende kryptische Geschehen bis kurz vor dem Aufwachen von der Schlafenden erzählt wird. Aber daran glauben wir doch dann selber nicht.
Was also geschieht in dieser ungewöhnlichen und beunruhigenden Geschichte? In Kurzfassung fährt Ruth mit ihrem Wagen in die Heimat der Eltern: Groß-Einland, weil sie weiß, daß ihre Eltern dort beerdigt werden wollten und alles regeln will. Problem ist nur, daß der Ort nirgends zu finden ist. Auf keiner Karte und auch nicht bei den Ortschaften in der Steiermark und auch nicht in Oberösterreich, die sie telefonisch abruft, denn in diesem Grenzgebiet soll diese einst bedeutende Stadt liegen. Sie fährt und fährt, meist im Kreis, muß dreimal übernachten, bis sie am vierten Tag die Gemeinde dann eher durch Zufall erreicht – und mit einem kaputten Auto, so haben die Straßen und die Unbeugsamkeit dem Gefährt zugesetzt. Also muß sie bleiben. Was, wiederum kurz und zusammengefaßt drei Jahre währt, die Wiener allerdings sprechen bei ihrer Rückkehr von sechs Jahren. Das ist schon stark im relativ kleinen, überschaubaren Österreich.
Die Ich-Erzählerin Ruth berichtet über ihr Ankommen und ihr Bleiben in Groß-Einland als Naturwissenschaftlerin, will sagen nüchtern und klar. Schnell bekommt sie Zweierlei mit: daß es hier nicht mit rechten Dingen zugeht und daß der Ort die Besonderheit aufweist, daß die Mitte aus einem arbeitenden Loch besteht, das immer wieder die umringenden Häuser in den Schlund mithineinzieht. Am Kriegsende, für den Ort am 21. April 1945, als die Russen Groß-Einland eroberten/befreiten, wurde der ganze Ort zerstört und alle Trümmer und Toten in den Schlund geworfen und anschließend die Stadt originalgetreu in alter Schönheit wiederaufgebaut. Denn, als Ruth in die Stadt kommt, ist sie ob des Anblicks eines Städtchens, das wie früher aussieht, verzaubert.
Und jetzt kommt es: diese originelle, eindeutig dystopische Erzählung der Protagonistin wird unterfüttert mit zwei fortlaufenden unterschiedlichen Schreibeinschüben, die man graphisch gut auseinanderhalten kann: Während die Erzählung in einer serifenbetonten aus der Familie der Antiqua-Schriften (Garamond, Times) abgedruckt ist, gibt es Einschübe wissenschaftlicher, philosophischer, philologischerNatur, die in der zweiten, sehr viel kleineren Kursivschrift mit Serifen aus der englischen Schule (z.B. Regula) erscheinen, während in der dritten, erkennbar serifenlosen und kleineren als der ersten, aber größeren als der zweiten (Familie der Grotesk-Schriften:Helvetica, Univers?) Schrift alle das Loch, den Schlund, das unterirdische Grottensystem in der Ortsmitte bezüglichen Geschichten: historisch, geologisch, personell erzählt, besser: berichtet werden.
Diese formale Gliederung und ihre Inhalte entsprechen durchaus dem Stil einer Physikerin als Erzählerin, aber das langt nicht, um auch die Sinnhaftigkeit des Erzählten zu legitimieren. Wenn Ruth die Bewohner schildert und die gesellschaftliche Struktur in ihrer Dichotomie: einerseits ein demokratisch gewählter Bürgermeister, andererseits die Gräfin, die die eigentliche Macht hat und ausübt, dann wird Phantastisches derart wirklichkeitsnah erzählt, daß man, wenn es schon kein Albtraum sein soll, schwankt zwischen Dystopie, Nostalgie, Scherz, Satire, aber eben nicht Ironie und tiefere Bedeutung.
Originell bleibt die Geschichte mit skurrilen Begebenheiten, aber sie verärgert durch einen Zwang zur angestrengten künstlichen sprachlichen Nobilitierung. Wenn in der gestrigen Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) Julia Encke in einem sehr lesenswerten Artikel darüber schreibt, daß auf der Zwanzigerliste zwar sieben literarische Debüts ausgewählt sind, aber die beiden besten nicht, kommt sie im Zusammenhang mit einem anderen Auswahlband auf dessen Manie der blümeranten Adjektivverwendung zu sprechen: „Und jedes weitere Adjektiv ist nur ein Hilfsmittel, um das Erzählte literaturhaft erscheinen zu lassen.“
Im Falle von DAS FLÜSSIGE LAND sind es nicht allein die Adjektive, sondern ein irritierender, weil gewollter und exaltierter Sprachgebrauch: Da wird ein Busch tranchiert, mesmerisierende Gewalt ausgeübt, gesinntert, götterspeisenhafte Zeitlosigkeit herrscht auch noch. Man weiß doch spätestens seit Kafka, daß das Unheimliche am stärksten wirkt, wenn es sprachlich schlicht daherkommt.
Das Eigentliche, das Unheimliche, die Metapher bleibt das flüssige Land inmitten der Ortschaft, wo unter der Naziherrschaft 750 Zwangsarbeiter unter Tage arbeiten mußten, die dann von 10 Aufsichtsnazis abgeknallt, also ermordet und in den Schlund weiter unten geworfen wurden, davor und danach aber auch noch schreckliche Dinge geschehen sind, die aber deshalb irgendwie zeitlos bleiben, weil sie nur Historisches behaupten, aber nicht wirklich erzählen. Verdrängtes braucht aber Wirklichkeit, soll es ans Tageslicht kommen. Was ist mit der Befreiung durch die Russen, was ist mit der Besetzung dieser Gegend nach dem Krieg? Schließlich ist erst am 15. Mai 1955 Österreichs Souveränität eingetreten. Davor war die Steiermark britische Zone, Oberösterreich US-amerikanisch besetzt. Aber genau in der Nachkriegszeit handelt die Geschichte der Eltern...
Man wundert sich auch, wenn die Einwohner von Groß-Einland Skat spielen, wäre für damals nicht Tarock angesagter gewesen? Eine tarockisierende Runde wäre doch viel angemessener: landestypisch und sprachlich.
Dann taucht, sehr eindrucksvoll, nach einem Jahr des Daseins von Ruth in Groß-Einland, auf einmal ihre Großmutter auf, die im Altersheim lebt, wobei Ruth weder das Altersheim kannte, noch um ihre 96jährige Großmutter wußte, die zudem drei Tage nach dem Besuch der Enkelin stirbt. Welche Funktion das hat, versteht man genauso wenig wie Folgendes: „Sie sah ohne Zweifel meinem Vater ähnlich: dieselben tief im Kopf liegenden Augen, die gleiche kurze Stirn – aber das war natürlich eine banale Einsicht.“ Nicht banal dagegen ist doch der Widerspruch, daß im Roman die Eltern des Vaters früh verstorben sind, weshalb der Sohn in der Familie Schalla aufwuchs– siehe oben – und Adoption sowie Widerruf der Liebe/Ehe wegen geschahen. Und wieso dann die Mutter des Vaters lauf einmal ebt, wird nirgends erklärt, also gar nicht als Widerspruch thematisiert. Das wirkt schlampig.
Noch einmal: originell, aber zu gewollt und insgesamt nicht ganz stimmig.
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Info:
Raphaele Edelbauer, Das Flüssige Land, Klett-Cotta, August 2019
1. Aufl. 2019, 350 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96436-3