Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Inzwischen wissen Leser und Leserinnen von WELTEXPRESSO, daß mit Garry Disher auf Platz 1 der Krimibestenliste immer zu rechnen ist, sei es KALTES LICHT aus dem Unionsverlag (jetzt von Platz 1 auf 4) oder sein diesmonatlicher Spitzenreiter HITZE von Pulp Master. Und auch die nächstplazierten, die zwei einzigen Frauen, Tawni O‘Dell, Wenn Engel brennen und Denise Mina, Klare Sache haben sich auf Platz 2 und 3 etabliert. Aufgepaßt! Beide Romane sind erschienen bei Ariadne im Argument Verlag. Die beiden einzigen Autorinnen auf der Liste. Das wird man sich merken müssen!
Heute aber geht‘s um drei Frauen, mindestens drei, die allesamt keine Autorinnen sind, sondern die Opfer eines einzigen Mannes. Muß man den Autor vorstellen? Ja, schon deshalb, weil nach der Lektüre von DREI, dem im Diogenes Verlag erschienenen Roman, sich diejenigen, die Kommissar Avi Avraham noch nicht kennen, schnell um ihn kümmern werden. Denn ob die Art und Weise, wie Mishani in DREI schreibt, ihn auch sonst auszeichnet, wollen und können Leser schnell überprüfen. Dabei gibt es die Kriminalromane im Original und Hardcover im Zsolnay Verlag und Jahre drauf sind dann alle drei bei dtv als Taschenbuch erschienen. Das vorneweg. Denn das lohnt auch.
DREI ist einer der seltsamsten Romane, die mir je unterkamen. Er fängt ganz harmlos an und lange weiß man überhaupt nicht, was das soll, dieses vorsichtige Herantasten von einer Frau und einem Mann und umgekehrt. Viel später, sehr viel später wendet der Autor dann noch einen Trick an und bezieht uns in sein Schreiben mitein, nennt uns Du und verrät uns, was wir dann alles schon gewußt haben werden, gelesen haben werden...unheimlich ist einem dann längst. Und erst in der Rückschau versteht man ein wenig von seinen Schreibmechanismen, wie ihm das gelingt, uns zum Teil seiner Handlung zu machen.
Also von vorne, denn diese Episode, die erste der drei Frauen, ist mit 126 Seiten der insgesamt 330 Seiten die längste und auch vom Gefühl her intensivste, was noch zu relativieren ist. Es geht um Orna, eine Frau Mitte-Ende der Dreißig aus Cholon – schon wieder, auch die Krimis spielen dort, in diesem südlichen Vorort von Tel Aviv, aber als eigene Stadt - , die aus heiterem Himmel von ihrem Mann Ronen erfahren hatte, daß es eine andere gibt, eine Deutsche dazu, mit der und ihren vier Kindern er nun in Nepal lebt,- während sie nach der Scheidung alles tut, um den gemeinsamen Sohn Eran durch die Klippen der Verzweiflung ob des Verlassens des Vaters – Kinder denken ja fast immer, daß es ihretwegen geschah, auf jeden Fall verläßt der gehende Vater/die Mutter die Kinder – zu schleusen. Helfen soll dabei der Therapeut, der teuer genug ist, was sie gar nicht zahlen kann, von ihrem kleinen Gehalt, weshalb die gut situierte Mutter aushilft, die aber auf Europareise ist, als sie wichtig wird.
Eigentlich definiert sich diese Orna nur über ihren Sohn und auch den verlassenen Mann. Sie selber bräuchte eine Scheidungstherapie, das ist selbst ihr klar, aber sie hat das Geld dafür nicht. Werden Gymnasiallehrer in Israel so schlecht bezahlt? Sie ist nämlich eine, hält aber das Berufliche raus aus all den Lebensüberlegungen, an denen wir teilhaben. Noch wissen wir ja von nichts. Aber je länger wir ihren Gedanken und Gefühlen sowie Handlungen folgen, um so unsympathischer wird uns diese Frau, die vom Leben alles erwartet, aber selbst wenig dazu beitragen möchte. Eine Gefühlskälte und Unentschiedenheit, hart zu lesen, toll beschrieben.
Schließlich schaut sie bei einem Dating-Portal für Geschiedene rein und findet einen einzigen Mann, der kein Aufhebens von sich macht, keine großartigen Erwartungen formuliert, nur: „Zweiundvierzig, einmal geschieden, wohnhaft in Givatayim, ...zwei Kinder, ein Meter siebenundsiebzig , Akademiker, selbstständig, wirtschaftlich gut gestellt, aschkenasischer Herkunft. Politische Einstellung fehlte. Auch ein Teil der anderen Rubriken war leer geblieben“ (S. 9) Und sie wird initiativ, schreibt ihn an und schreibt zurück, als er sich meldet und ihre Frage, wie man so was mache, die Anbahnung, so beantwortet: „In der Regel spricht man erst mal über die Scheidung...Tauscht Berichte vom Schlachtfeld aus. Ein bißchen wie beim Reservedienst. Ziemlich deprimierend, aber ich bin bereit, den Anfang zu machen.“ (13)
Das liest sich locker und bekannt – nein, nein, nicht aus eigener Anschauung, aber aus der Literatur – und mit zunehmenden Treffen geht diese für uns rätselhafte Orna mehr und mehr aus sich heraus. Tatsächlich ist sie es, die meist die Initiative ergreift und mit Gil, so heißt der Mann, der Anwalt ist, eine uns kalte sexuelle Beziehung eingeht, die man auf keinen Fall Liebesbeziehung nennen möchte. So etwas Seltsames, weil Undefinierbares habe ich noch nicht gelesen. Was soll man davon halten: „Der Sex brachte sie nicht auseinander, verband sie aber auch nicht! (56) Solche lakonischen Analysen dieser Nicht- oder doch nur potentiellen Beziehung liest man dauernd.
Wie es Mishani fertigbringt, uns gegen die doch bedauernswerte Orna aufzubringen, wissen wir auch nicht. Auf jeden Fall wird diese liebevolle Mutter, die ihren Sohn in ihrem Sinne ganz schön manipuliert, uns zunehmend ein Graus. Man denkt fast, der arme Gil- und fragt sich lange, warum man das eigentlich liest, eine so sperrige, ja defekte Beziehungskiste zwischen zwei uns nicht groß interessierenden Menschen. Aber man wartet ja auf den Krimi, denn lange, lange bleibt das ein Gesellschaftsroman, der einem durchaus auch ohne Mord in die Knochen fährt. So einsam sind die Gestalten, so ungefestigt bewegen sie sich durch Tel Aviv, es erfaßt einen Traurigkeit. Echt. Und dann passiert etwas. Und dann ist es ein Krimi. Weshalb Nummer Zwei drankommt.
Es geht um Emilia, die offiziell als Krankenpflegerin von Lettland nach Israel kam und zwei Jahre Nachum betreute, der nun am 25. Dezember 84jährig gestorben ist. Er konnte kein Lettisch, sie kein Ivrit. Aber sie war ihm eine liebevolle Pflegerin und ohne ihn ist ihr die Welt schlagartig leer. Auch hat sie jetzt keine Arbeit, noch Unterkunft. Je länger wir Emilia begleiten desto mehr wächst uns ihr Schicksal ans Herz, eine Mitte-Endvierzigerin, die in zu großen grauen Klamotten rumläuft, unansehnlich, den Herrgott im Herzen, weshalb sie auch dem Priester Tadeusz die dicken Scheine in die Kollekte wirft, die sie sich durch Putzen hinzuverdient – und sie nicht selbst ausgibt. Das Geld rührt von ihrer Zusatzarbeit, das Putzen der Wohnung von Gil, dem uns schon bekannten Anwalt, der sich als Sohn von verstorbenen Nachum herausstellt, weshalb er Emilia kennt und ihr hilft. Inzwischen hat sie nämlich in einem Stift die Betreuung einer alten Dame übernommen, die erst von ihr nichts wissen will, sich dann aber zufrieden mit ihrer Fürsorge zeigt. Deren Tochter und ihr Mann werden noch eine üble Rolle spielen, auf jeden Fall ist uns selten ein Schicksal untergekommen, daß mit unseren sonstigen sozialen Erfahrungen so wenig zu tun hat und wenn wir oben offen sagten, daß wir diese Orna nicht leiden mochten, so geht es einem genau andersherum mit dieser Emilia, mit der man wirklich nichts gemein hat, die einen aber von ganzem Herzen dauert. Das hat Mishani wirklich exzellent beschrieben. Und schon wieder passiert dasselbe. Auf einmal wird aus dieser Geschichte ein Krimi.
Und als ob Autor Dror Mishani unsere Gestimmtheit mitbekäme, fängt er im Teil Drei so an: „Die dritte Frau wird er in dem Café in Givatayim treffen, in dem er mal mit dir gewesen ist, Orna. Sie wird jeden Morgen wenige Minuten nach acht dort eintreffen und immer am selben Tisch in der Ecke der Terrasse sitzen, die den Winter über verglast ist.“ (223) Der Erzähler redet mit Orna, aber redet eigentlich mit uns und ab jetzt beginnt dieses Eingebundensein in die Handlung, die oben beschrieben wurde, so daß wir sozusagen Teil der Geschichte werden, die eine wirklich unvermutete, ja raffinierte Volte schlägt und nachdem: Krimi! wieder was passiert, was nicht sein dürfte, die Rache der Frauen einen Namen trägt: Orna.
Nicht: kein Krimi, sondern diesmal: viel mehr als ein Krimi!!!
Die KrimiBestenliste der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und von Deutschlandfunk Kultur 10-2019
Rang (Vormonat)
1 (8)
Garry Disher: Hitze
Aus dem Englischen von Ango Laina und Angelika Müller.
Pulp Master, 278 Seiten, 14,80 Euro
Queensland. Wyatt soll ein Gemälde stehlen. Nazi-Raubkunst, die wieder aufgetaucht ist. Ob die Story stimmt? Wyatt ist nicht der einzige Dieb an der Goldküste. Und hat zudem abgehängte Komplizen auf den Fersen. Da passt es prima, dass seine Auftraggeberin Ex-Soldatin ist. Cool, cooler, Wyatt.
2 (2)
Tawni O’Dell: Wenn Engel brennen
Aus dem Englischen von Daisy Dunkel.
Ariadne im Argument-Verlag, 350 Seiten, 21 Euro
Pennsylvania. Leicht mit Problemen umgehen kann Chief Carnahan. Seien es verschreckte Mütter, renitente Redneck-Familien oder Mädchen, die in brennenden Minen stecken. Hat sie doch selbst ihr Gewaltpotenzial nicht immer kontrolliert. Feministisch, realistisch: Matriarchat kann Elend verschärfen.
3 (3)
Denise Mina: Klare Sache
Aus dem Englischen von Zoë Beck.
Ariadne im Argument-Verlag, 352 Seiten, 21 Euro
Schottland, Île de Ré. Als sich Annas Gatte mit Töchtern und neuer Frau davonmacht, hört sie gerade im geliebten True-Crime-Podcast vom Tod eines alten Bekannten. Anlass, mit einem magersüchtigen Popstar die wahren Verbrechen ihrer Vergangenheit zu durchforsten. Scharfer Glamour-Cocktail, geschüttelt.
4 (1)
Garry Disher: Kaltes Licht
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, 314 Seiten, 22 Euro
Melbourne. Nach fünf Jahren Langeweile als Pensionär ist Alan Auhl zurück im Polizeidienst. Mit der Lässigkeit der Erfahrung lotet er die Grenzen des Gesetzes aus, packt zu, wo Solidarität fehlt. Heiteres Lob eines coolen Alten, der menschliche Bosheit stellt, wie immer sie getarnt sei. Brillant.
5 (5)
Dror Mishani: Drei
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke.
Diogenes, 336 Seiten, 24 Euro
Tel Aviv, Bukarest. Drei Frauen – immer derselbe Mann. Über ein Dating-Portal für Geschiedene kommen Orna und Gil zusammen. Bis sie mitkriegt, dass er sie getäuscht hat. Emilia und Ella queren auch seinen Weg. Der Rest ist Kritikers Schweigen und Bewunderung. Vivisektion der Alltagsbösartigkeit.
6 (4)
Max Annas: Morduntersuchungskommission
Rowohlt, 346 Seiten, 20 Euro
DDR, 1983. Ermittlungen im geschlossenen System. An der Bahnstrecke zwischen Jena und Saalfeld liegt der Leichnam eines afrikanischen Vertragsarbeiters, zerfetzt, geköpft. Otto Castorp, MUK Gera, lässt nicht los, trotz politischen Ermittlungsverbots. Und entdeckt, was es in DDR nicht geben kann: Nazis.
7 (-)
Adam Brookes: Der chinesische Verräter
Aus dem Englischen von Andreas Heckmann.
Suhrkamp, 402 Seiten, 15,95 Euro
Peking, London. Nach 20 Jahren gelingt Peanut die Flucht aus dem Arbeitslager. MI6 soll ihn rausholen, als Gegenleistung für Raketengeheimnisse. Korrespondent Philip Mangan wird widerwillig seine Kontaktperson. Die Gier der Geheimdienste bringt sie beinahe um. Pikanter Politthriller, China heute.
8 (-)
William Boyle: Einsame Zeugin
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf.
Polar, 300 Seiten, 20 Euro
Brooklyn. Amy bringt alten Menschen die Kommunion. Als sie Zeugin eines Mordes wird, verbirgt sie die Waffe. Halt die Klappe! Ihre Lektion von Kind auf. Doch der Mörder ist hinter ihr her, und hinter der Beute, um die es bei dem Mord ging. Skrupulös erzählt Boyle vom Sehnen kleiner Leute, mit ihnen.
9 (-)
Harry Bingham: Fiona - Das tiefste Grab
Aus dem Englischen von Andrea O’Brien und Kristof Kurz.
rororo, 542 Seiten, 10 Euro
Wales. Archäologin Gaynor Charteris grub nach Relikten von König Artus. Jetzt liegt sie enthauptet in ihrem Studio, drei Speerspitzen in der Brust. Wer killt harmlose Artus-Forscher? Fiona Griffiths, Freundin aller Ermordeten, muss den Artus-Mythos knacken, Schwert Excalibur an der Seite. Abgefahren.
10 (-)
Hideo Yokoyama: 2
Aus dem Englischen von Sabine Roth.
Atrium, 152 Seiten, 16 Euro
„Präfektur D“, Japan. Verwaltungsinspektor Futawatari ist zuständig für Personalwesen, ein Hintergrund-Polizist. Zweimal lotst er durch Ermittlungen im Apparat: Ein Großer der Kripo will seinen Posten nicht räumen, eine Technikerin ist verschwunden. Leises Lob kriminalbürokratischer japanischer List.
Die Krimibestenliste
Die zehn besten Kriminalromane des Monats September 2019
An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit Deutschlandfunk Kultur.
Jury:
Die Jury: Tobias Gohlis, Sprecher der Jury | Volker Albers, „Hamburger
Abendblatt“ | Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR | Gunter Blank,
„Rolling Stone“ | Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ | Hanspeter
Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ | Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ | Sonja Hartl, „Zeilenkino“,
„Polar Noir“ | Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“| Kolja Mensing,
„Deutschlandfunk Kultur“ | Marcus Müntefering, „Spiegel Online“, |
Ulrich Noller, WDR, „Deutschlandfunk Kultur“, SWR | Frank Rumpel,
SWR | Margarete von Schwarzkopf, Literaturkritikerin |Ingeborg Sperl,
„Der Standard“ | Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ | Jochen Vogt,
„NRZ“, „WAZ“
Foto:
© Cover
Info:
Die Krimis von Dror Mishani
Dror Mishani: Die schwere Hand. Avi Avraham ermittelt
Zsolnay Verlag, Wien 2018
ISBN 9783552058842, Gebunden, 288 Seiten, 22.00 EUR
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Avi Avraham, der "melancholische Sturkopf", ist soeben zum Leiter des Ermittlungsdezernats von Cholon-Ayalon, Israel, ernannt worden. Beim nächsten Einsatz erkennt...
Dror Mishani: Die Möglichkeit eines Verbrechens. Avi Avraham ermittelt
Zsolnay Verlag, Wien 2015
ISBN 9783552057371, Kartoniert, 336 Seiten, 19.90 EUR
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. In Cholon, Israel, wird eine Kindergärtnerin bedroht und brutal zusammengeschlagen. Als sie aus dem Koma erwacht, kann sie den Täter identifizieren - alle Fragen...
Dror Mishani: Vermisst. Avi Avraham ermittelt
Zsolnay Verlag, Wien 2013
ISBN 9783552056459, Gebunden, 351 Seiten, 17.90 EUR
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Cholon, nahe Tel Aviv: Ein 16-jähriger Junge ist spurlos verschwunden.
Alle drei Romane auch als Taschenbuch bei dtv