Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wie sie sich denn fühle angesichts dessen, daß nach den Nobelpreisvergaben in der öffentlichen Diskussion Peter Handke nun der bad boy und sie das good girl sei, wurde sie von einem Kollegen der Stuttgarter Zeitung gefragt. Spontan erwiderte sie– nachdem deutlich ein Zwischenruf zu hören war: „Das fragt ein Mann!! - mit glücklichem Lächeln „Wunderbar. Es trifft sich gut, da ich ja sonst in der Rolle des bad girl stecke. Jetzt kann ich das richtig genießen.“
Damit hatte sie nicht nur die Lacher auf ihrer Seite, sondern durch ihre Reaktion konnten die anwesenden Journalisten auch den Teil von ihr mitbekommen, der in Polen als ihr subversives Wesen vom Volk geliebt wird – sie ist dort wirklich eine in der Gesellschaft verankerte erfolgreiche Schriftstellerin. Ihre Konfrontation mit den Mächtigen kommt mit den Personen in ihren Büchern daher, so wie es der Protagonistin in ihrem, von Agnieszka Holland verfilmten Roman (Der Gesang der Fledermäuse, als Film: POKOT) erfolgreich gegen die Männer-Jäger-Riege in ihrem Dorf gelingt. Sie ist eine Apologetin des Menschlichen, des Mitmenschlichen, was in ihrem Mund keine Sprechblase, sondern Substanz wird.
Daß sie zudem eine fulminante Geschichtenerzählerin ist, konnte man gleich zu Beginn ihrer „Rede“ erkennen. Während die drei Männer ordentlich mit Anzug und Schlips staatstragend am Pult vorgetragen hatten, saß sie mit ihrer Übersetzerin am Tisch auf dem Podium. Das hatte Juergen Boos sinnvollerweise so gewollt und ich behaupte, daß ein Vortragen allein am Pult stehend eine andere Rede hervorbringt, als wenn ich auf dem Stuhl den überfüllten Stuhlreihen gegenüber sitzend etwas erzählen kann. Sie also war seit letzter Woche mit dem Wagen auf lange geplanter Lesereise von Berlin nach Bielefeld unterwegs, als DER ANRUF kam. Irgendwo an der Autobahn, auf einem Parkplatz in der Pampa hielt sie also an, erfuhr die ihr völlig unerwartete Nachricht vom Nobelpreis und fuhr weiter nach Bielefeld. „Ich war nicht entsprechend angezogen und weitgehend fassungslos.“
Warum die deutschen Journalisten allein beim Wort Bielefeld ein wissenden Grinsen aufsetzten, weil ja neuerdings die nicht unwichtige Frage schwärt, ob es eine Bielefeld-Verschwörung gibt, Bielefeld also wirklich nicht existiert - oder doch, das hat sie mit ihrer Geschichte beantwortet. Denn als sie zum Treffpunkt, der Stadtbibliothek kam, wurde sie von einer großen Menschenmenge und vom Oberbürgermeister der Stadt begrüßt, der seine goldene Kette trug, was sie sehr beeindruckt haben mußt, Fernsehen, Radio und Journalisten waren auch da, aber noch stärkeren Eindruck hat ihr gemacht, mit welcher Herzlichkeit sie empfangen wurde und zudem Essen und Trinken geboten wurde. Das erinnerte sie an die geschichtlich Situation von 1831, an die Niederschlagung des polnischen Aufstandes, wo die Besiegten, um der Verfolgung zu entgehen, die Straßen entlang bis nach Norddeutschland zogen, wo sie von der Bevölkerung aufgenommen, an den Straßen mit Essen und Trinken versorgt wurden und sogar Schlafplätze erhielten. „Da dachte ich mir, was für ein Glück, daß so ein Empfang nicht nur besiegten Helden zuteil wird, sondern auch Schriftstellern.“ Ihr Empfang in Bielefeld sei auch ein Beispiel dafür, wie die Fäden der Literatur sich verweben und zwischen den Menschen unterschiedlicher Herkunft ein Band schaffen.
Sie verwies auch darauf, daß Literatur zu schaffen, ein sehr langsamer Prozeß sei, es braucht Zeit, das, was sich dauernd ändert, zu beschreiben. Sind wir hilflos angesichts des Schwindens der Haltepunkte in der analogen Welt zugunsten von Virtuellem? Die selbst gestellte Frage beantwortet sie mit "Nein! Ich glaube an die Literatur, die Menschen verbindet!"
Olga Tokarczuk hat das Vermögen, sich sehr höflich auszudrücken und dennoch deutlich werden zu lassen, was sie meint. Sie möchte Handke gratulieren und versprechen, daß sie beide den Boden unter den Füßen nicht verlieren. Wer nun gerne von ihr Werturteile über den Kollegen gehört hätte, hatte sich geschnitten. Und das ist gut so. Der aus Bosnien stammende Saša Stanišić hatte bei der Entgegennahme des Deutschen Buchpreises 2019 für sein Werk HERKUNFT mit Recht eine literarischer Abrechnung mit Handke wegen seiner verharmlosenden und wahrheitswidrigen Schriften zum grauenvollen Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien der 90er Jahreals aufgewühlt und doch sachlich geäußert. In diesen Minuten herrschte im Kaisersaal heiliger Ernst und es war mucksmäushenstill. Olga Tokarczuk hielt sich von Nobelpreis zu Nobelpreis zurück, verwies zudem darauf, daß sie auf ihrer Lesereise überhaupt nicht zum Zeitungslesen komme, alles andere wäre hier stillos gewesen. Und auch die Fragen nach der politischen Situation in Polen, verstärkt durch den Wahlsieg der PiS vom vergangenen Sonntag, beantwortete sie derart, daß in Polen ein Kulturkrieg herrsche, indem die konservative Mehrheit allein Kultur definieren wolle, sie aber gehöre zu dem Teil Polens, der die tiefe multikulturelle Tradition des Landes lebe, das von außen fälschlich als einheitlich wahrgenommen werde. „Polen ist aus der Verflechtung unterschiedlicher Kulturen erwachsen.“ So erinnerte sie auch an den polnisch-jüdischen Bruno Schulz aus Galizien, damals Österreich-Ungarn, der eine der schönsten polnischen Sprachen erschaffen habe.
Und was ihre politischen Gegner angeht, die im Moment in Polen kurzfristig nicht mehr vorhanden sind, denn sie feiern ihren Nobelpreis als einen für Polen, so trifft ihre öffentliche Erinnerung an die gute Aufnahme der besiegten Polen im 19. Jahrhundert in deutschen Landen zentral ins Fleisch der Mächtigen, denn die wollen immer nur spalten, wo sie zur Literatur sagt: "Aufgabe des Schriftstellers ist das Verbindende zwischen Menschen. Romane sind für mich die raffinierteste zwischenmenschliche Kommunikationsform.“ Deshalb mache ihr auch Angst, daß sie bei ihren Kollegen zunehmend Selbstzensur feststelle.
Wer die Romane von Olga Tokarczuk noch nicht kennt, kann dies nachholen und auch sukzessive ihr Gesamtwerk verfolgen, das derzeit der Kampa Verlag aus Zürich herausbringt. Das alles übrigens vor dem Nobelpreis. Wie schön, daß diejenigen belohnt werden, die ohne Aussicht auf ökonomische Erfolge solche Autoren und Autorinnen zu den Lesern bringen.
Fotos:
(c) Redaktion
(c) Redaktion