b campusKarl Erich Grözinger: Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik, Bd. 5. Meinungen und Richtungen im 20. und 21. Jahrhundert, Campus Verlag,

Daniel Krochmalnik

Berlin (Weltexpresso) - Nach 839 Seiten steht wie in Heiligen Büchern über einer Arabeske die Formel: Tam WeNischlam HaSefer BeEsrat HaEl Jitbarach, d. h.: Beendet und vollendet das Buch, mit Hilfe Gottes, Er sei gesegnet. Die Eulogie bezieht sich nicht nur auf den anzuzeigenden Band allein, sie schließt die 3764 Seiten Text und 137 Seiten Bibliographie von Karl Erich Grözingers monumentalem „Fünfbuch“ Jüdisches Denken. Theologie, Philosophie und Mystik von der Bibel bis ins 21. Jahrhundert ab.

Die bloßen Zahlen verdeutlichen schon die riesenhaften Ausmaße des Werkes, nicht zu reden vom vielgliedrigen Aufbau des Ganzen und der sorgfältigen Durchführung im Einzelnen. Der Verfasser schöpft aus dem Vollen, sein Werk wird zunehmend selbstreferentiell, mit Hilfe der Querverweise kann der Leser wie in einem Hypertext endlos durch dreitausend Jahre jüdischer Denkgeschichte navigieren. Die Geschichte des jüdischen Denkens wird als Gemäldegalerie mit Porträts von Denkern und Werken, neuerdings auch von Denkerinnen (S. 669-770), sowie großen Panoramen von Denkbewegungen präsentiert. Grözinger kennt jedes der vorgestellten Werke aus erster Hand, und er lässt sie in langen, eigens übersetzten Passagen zu Wort kommen. Seine Kommentierung bewegt sich durchweg auf dem letzten Stand der historisch-kritischen Wissenschaft (s. seine Bibliographie) und zeichnet sich immer durch ein hohes theologisches und philosophisches Reflexionsniveau aus – das Ganze ist ein Meisterwerk geistesgeschichtlicher Darstellung!

In den großen Philosophiegeschichten des Mittelalters wird das Jüdische Denken meist als Fußnote zu einer Fußnote abgehandelt, als jüdischen Abklatsch des arabischen Abklatsches des Griechischen Denkens. Jüdische Denker werden als Epigonen betrachtet und gewöhnlich nur als Händler mit fremden Ideen im Wissenstransfer zwischen Ost und West gewürdigt – etwa in Etienne Gilsons La Philosophie au Moyen Age (2. Aufl. 1947) als gelehrige Schüler der arabischen „Meister“ auf 8 von 782 Seiten, in Kurt Flaschs Das Philosophische Denken im Mittelalter (1986) als „Anreger“ auf 8 von 720 Seiten. Wer mit solchen Vorurteilen Grözingers Ausstellung betritt, der reibt sich die Augen, in dieser Retrospektive stößt er auf unerhört originelle Gedankengebilde aus jüdischen Quellen und europäischen Denkansätzen. Gewiss, Grözinger ist nicht der erste, der das Vorurteil der Epigonalität des Jüdischen Denkens in der Philosophiegeschichtsschreibung widerlegt, R. Jakob Guttmann, R. Manuel Joel und vor allem Harry Austryn Wolfson haben im vorvorigen und vorigen Jahrhundert die Originalität einzelner jüdischer Denker nachgewiesen, aber noch nie hat das jemand für das Jüdische Denken als Ganzes unternommen.

Man ist dann weniger überrascht, wenn man in Grözingers ‚Bilder einer Ausstellung‘ zur Moderne und Postmoderne gelangt und auf Jüdische Denker stößt, die wie Martin Buber, Franz Rosenzweig und Emmanuel Lévinas auch in der allgemeinen Philosophiegeschichte Epoche gemacht haben. Der zu besprechende 5. Band von Jüdisches Denken führt die Geschichte vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts fort. Dabei geht der Verfasser auch Risiken ein, so, wenn er „Stimmen aus der Academia“ behandelt, die noch nicht zum etablierten Kanon gehören und ihre Klassizität erst noch unter Beweis stellen müssen (S. 773-825). Aber gerade diese Ausweitung der Denkzone macht diesen Band so interessant. Es ist unmöglich, in einer Buchbesprechung den Reichtum des Bandes auch nur annähernd zu referieren, es bleibt uns nichts anderes übrig, als einzelne Gesichtspunkte herauszugreifen, die den Band und das ganze „Fünfbuch“ empfehlen.

Zionismus und Schoah – die Themen von Band 4 – haben den geographischen Schwerpunkt des Jüdischen Denkens von Europa nach Nord-Amerika und Israel verlagert. Nichtsdestotrotz stammen die wichtigsten Meisterdenker der zweiten Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts, die in Band 5 den größten Raum einnehmen, noch aus old europe. Die Kohorte der Nuller-Jahre hat noch mehr gemeinsam: Emmanuel Lévinas (1905-1995, S. 168-189), R. Josef Dov Soloveitschik (1903-1993, S. 291-388), Abraham Joshua Heschel (1907-1972, S. 389-413), Jeschajahu Leibowitz (1903-1994, S. 525-582) waren Ostjuden, die in Deutschland studiert und promoviert haben (Lévinas nach einem entscheidenden Studienaufenthalt in Freiburg i. Br. an der deutschesten Universität Frankreichs). Sie sind durch die damals herrschenden Richtungen der deutschen Universitätsphilosophie, vor allem des Neukantianismus Hermann Cohens und der Phänomenologie Edmund Husserls – also Meister, die selber jüdisch waren –, entscheidend geprägt worden, ehe sie nach dem Krieg in neuen Zentren des jüdischen Lebens ihre eigenen Philosophien des Judentums entwickelten.

Die Geschichtsschreibung zur Jüdischen Philosophie im deutschsprachigen Raum hat nach dem Klassiker von Julius Guttmann Philosophie des Judentums (1933) darunter gelitten, dass Judaisten in aller Regel keine Fachphilosophen waren, sondern überwiegend Theologen oder Philologen. Wie aber soll man z. B. Cohens Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums gerecht werden, wenn man seinen Kant nicht gelesen hat und noch weniger Cohens Kant-Kommentare und seine Systemschriften? Diesem Mangel hilft Grözinger ab, indem er seinen Denker-Porträts jeweils eine Charakteristik ihrer Philosophie vorausschickt, bei Heschel die Phänomenologie Husserls (S. 390-399) und bei Solveitchik die neukantianische Epistemologie (S. 299-312). Aus diesem Grund ist sein Jüdisches Denken auch als Lehrmittel für die Jüdischen Studien geeignet, denn den meisten Studierenden fehlt hier gleichfalls der allgemeinphilosophische Hintergrund.

Lévinas knüpft an die Phänomenologie Husserls und Heideggers an, ebenso wie an Buber und Rosenzweig, die Grözinger in ausführlichen und auch kritischen Porträts vorstellt. Insofern ist Grözingers deutsch-französischer Bindestrich einleuchtend (S. 47-189). Lévinas hat schon früh die Rolle Bubers und Rosenzweigs in der „Jüdischen Renaissance“ im Vorkriegsdeutschland erkannt, die er im Renouveau juif im Nachkriegsfrankreich selber spielen sollte. 1959 hat er Rosenzweig als Modell eines Jüdischen Denkers „zwischen zwei Welten“ auf dem Colloque des intellectuels juifs de langue francaise vorgestellt, wo er seine berühmten Talmud-Lektüren hielt. Grözinger entwickelt das Jüdische Denken Lévinas‘ aber nicht aus seinen „konfessionellen“ Schriften, sondern mit gewohnter Meisterschaft aus seinen philosophischen Hauptwerken (S. 168-198). Dabei bleibt er wie üblich auf kritischer Distanz. So, wenn er das Lévinas‘sche „Subjekt“, das eben nicht Herr im eigenen Haus ist, sondern „Untertan“ (sujet) des Anderen, unter dessen Anklage und als dessen Geisel, mit dem krankhaft schlechten Gewissen Josef K’s in Kafkas Prozess vergleicht. Von Kafka zieht er, wie schon in seinem Buch Kafka und die Kabbala (5. aktualisierte und erweiterte Aufl. 2014), die Linien zu chassidischen Meistern und kabbalistischen Quellen. Hier zeigt sich ein entscheidender Vorteil von Grözingers magnum opus im Vergleich zu den üblichen jüdischen Philosophiegeschichten. Es beschränkt sich nicht auf die Philosophie im engeren Sinn, er bezieht vielmehr die ganze Breite der theologischen Ausdrucksmittel ein, also gegebenenfalls auch die mystischen und belletristischen. Auf diese Weise bekommt er geistesgeschichtliche Parallelen und Schnittpunkte in den Blick, die sonst verborgen blieben. Allerdings sah sich Lévinas in der Nachfolge der Gegner des Chassidismus, der Mitnaggdim seiner litauischen Heimat, namentlich des freilich auch kabbalistisch geprägten Schülers des Gaon von Vilna, Rabbi Chaim von Wolozyner (1749-1821). Dazu kann man ergänzend Judith Friedlanders schönes Buch Vilna on the Seine lesen.

Die Verhaftung des Jüdischen im Deutschen und Europäischen Denken hört mit der erwähnten geographischen Schwerpunktverlagerung nicht auf. So rekurriert etwa der orthodoxe israelische Philosoph Avi Sagi (Jg. 1953), dem Grözinger ein ausführliches Porträt widmet (S. 583-631), in seiner Philosophie des Gebets auf die Existenzphilosophie Heideggers und in seinem religions- und kulturphilosophischen Pluralismus auf die Hermeneutik Gadamers. Grözinger referiert die deutschen Philosophen wieder aus erster Hand (S. 592 ff., S. 606 ff.), wobei er in Gadamers und Sagis „Horizontverschmelzung“ (Misug Ofakim) seine eigene Auffassung der Hermeneutik des Jüdischen Denkens bestätigt sieht (S. 601 f.). Sodann verortet er Sagi in der theologisch-politischen Debatte des heutigen Staates Israel. Auch sonst schenkt Grözinger dem theologisch-politischen Komplex viel Aufmerksamkeit. Vielleicht ist der Vergleich von Malkod 67 des in Deutschland weitgehend unbekannten Israelis Micah Goodman über die ideologischen Dilemmata nach dem Sechstagekrieg (S. 633-666) mit Cohens Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums übertrieben, aber es zeigt doch, dass die Vernunft aus den Quellen des Judentums vor den Herausforderungen der Politik nicht kapituliert.

Grözinger hat schon im Band 4 von Jüdisches Denken bewiesen, dass er in Sachen Zionismus nicht leidenschaftslos ist (S. 423-433). Dafür gibt es auch in diesem Band weitere Belege, so, wenn er die „antizionistischen Reflexe“ der linksliberalen Tikkun-Olam-Bewegung geißelt (S. 256-260). Überhaupt ist Grözinger ein deutscher Judaist mit Herz für die jüdische und israelische Sache. Man möchte meinen, so eine Sympathie mit seinem Forschungsgegenstand verstünde sich von selbst. Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, braucht man nur die letzte Seite aus Johann Maiers großartiger Geschichte der jüdischen Religion (1992) aufzuschlagen. Im allerletzten Satz meint er, noch schnell eine „unkritisch-prozionistische“ Haltung verurteilen zu müssen (S. 672 u.). Oder man höre die verbalen Entgleisungen des zurückgetretenen Direktors des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer. Gewiss, ein Geometer muss kein Sechsstern sein – um einen von Schäfers Kernsprüchen über den Unterschied von Judaisten und Juden abzuwandeln –, er braucht sich aber auch nicht als Sechssternkritiker hervorzutun. Wohlgemerkt, Grözinger ist kein Apologet, seine Metakritik der Israel-Kritik ist wohlbegründet, sie scheint nur deshalb parteiisch, weil Antiisraelismus inzwischen auf vielen Campus der westlichen Welt Konsens geworden ist. Außerdem spart Grözinger auch gegenüber Erscheinungen des jüdischen Lebens nicht mit Kritik, wenn er es für richtig hält – so in seiner Darstellung der sukzessiven „Plattformen“ der jüdischen Reform in den USA, die nach vielen Verbiegungen und Verbeugungen vor dem Zeitgeist immer mehr zur traditionellen Form zurückkehrt (S. 202-224). Es ist gerade seine Reiz- und Streitbarkeit, die die Lektüre des monumentalen Werkes von Anfang bis Ende auf- und anregend macht.

Dann ist es aber auch unausbleiblich, dass der Rezensent nicht immer mit dem Autor einverstanden ist, so, wenn sich ein antitheologischer Affekt zu Wort meldet. Insbesondere die systematische Jüdische Theologie hält Grözinger für ein jüdisches Imitat der christlichen Theologie (S. 35-38, S. 428 u. ö.). Er stellt nicht wie Schäfer die Existenz der Jüdischen Theologie schlechthin in Frage, „Theologie“ ist immerhin das erste Wort des Untertitels, er bezweifelt nur den Singular. Als Beleg führt er gerne den Siddur an (Bd. I, S. 22-24; Bd. 5, S. 398). Es ist wahr, das Jüdische Gebetbuch ist ein Repositorium höchst unterschiedlicher Stücke unterschiedlichen Alters unterschiedlicher Herkunft. Dem historischen Theologen geht es um die Sonderung der zusammengewürfelten Stücke, was Grözinger die Analyse der theologischen „Grundlinien“ nennt. Mit gleichem Recht geht es aber dem dogmatischen Theologen um die „Außenlinien“, denn es steht zwar höchst Verschiedenes im Siddur, aber es steht doch nicht Beliebiges darin. Schließlich geht es dem systematischen Theologen um das Gesamtbild, woher und von wann die einzelnen Steinchen des Mosaiks immer stammen mögen. Die pure Vielheit widerspräche dem Begriff des Denkens, das von sich aus nach Einheit sucht, es widerspräche dem Einheits-Bekenntnis Adonai Echad, das nicht mit unvereinbaren Gottesbildern leben kann und – last but not least – es widerspräche der Bewusstseinseinheit des Beters, der nicht im LeSchem Jichud abwechselnd Kabbalist, im Jigdal Elohim Chaj Philosoph und im Schir HaKawod Anthropomorphist ist. Er spricht und singt diese Gebete aus der Überzeugung heraus, dass sie in verschiedenen Ausdrucksformen das Antlitz des einen Gottes zur Anschauung bringen. Die Theologie ist nur die Fortsetzung der Doxologie mit anderen, nämlich begrifflichen, systematischen Mitteln.

Was ist für Grözinger die Summe der Summe? Zerfällt seine große Sammlung in ein Sammelsurium von Einzelstücken? Eine solche Skepsis wäre einem Judaisten durchaus zuzutrauen – und sie wäre für den Leser nach 3764 Seiten engagierter Rekonstruktion ein trauriges Ergebnis. Und so fängt auch Grözinger an, die Vielfalt der Gottesbilder und ihrer menschlichen Ebenbilder gegen den dogmatischen Essentialismus in Stellung zu bringen und zieht sich auf den Historismus zurück. Doch dabei bleibt er glücklicherweise nicht stehen. Grözinger hat in allen fünf Bänden von Jüdisches Denken gezeigt, dass die jüdische Anthropologie stets auf die Schlüsselstelle Gen 1,26-27 und ihre Parallelen Bezug nimmt. Maimonides‘ Führer der Verirrten beginnt im 12. Jahrhundert mit einer Erläuterung dieser Stelle ebenso wie R. Chajim Wolozyners Nefesch HaChajim (Seele des Lebens) im 19. Jahrhundert. Die Bibel als Ort und Sprache des Jüdischen Denkens, das ist nach Grözinger die Konstante, das gesuchte überzeitliche Definitionsmerkmal. „Das Jüdische am jüdischen Denken ist, wenigstens solange das Judentum in den traditionellen Fußstapfen der rabbinischen Hermeneutik und im Verständnis des Judentums als Religion agierte, die Einfügung allen Denkens in die formale Struktur der Tora-Auslegung.“ (S. 873). Die Frage, ob die formale Bezugnahme nicht auch materiale Denkzwänge nach sich zieht, wäre eine Aufgabe für Jüdisches Weiterdenken. Denn die Gottebenbildlichkeit ist eine „Grenzmarkierung“, die z. B. a limine materialistische, biologistische, soziologistische Menschenbilder ausschließt. Die vorsichtige Einschränkung, dass dies nur für die voremanzipatorische Epoche gelte, unterschätzt ein wenig das Nachleben der jüdischen Antike in der Moderne. Auch offen antireligiöse Zionisten bezogen sich bei ihren nietzscheanischen „Umwertungen der Werte“ auf die Tora, wenn sie sie auch gegen den traditionellen Strich lasen. So, als ob Jüdische Denken erst dann zufrieden mit sich ist, wenn es sich in die Tora eingeschrieben hat.

Die Judaisten haben Grözingers opus magnum bisher kaum zur Kenntnis genommen. Dabei hat er der deutschen Judaistik ein stolzes Monument errichtet. Wenn man dieser Fachwissenschaft oft den Vorwurf nicht immer ersparen kann, dass sie sich lieber mit dem Jüdischen Aberglauben als mit dem Jüdischen Glauben befasst und vor lauter philologischem Kleinkram oft den Überblick verliert, so hat Grözinger in einem gewaltigen Kraftakt bewiesen, dass sich kritische Werkanalyse und synthetische Gesamtschau, philologische Genauigkeit und philosophische, theologische und politische Relevanz keineswegs  ausschließen müssen. Man wünscht diesem Werk eine auch für Studierende erschwingliche Studienausgabe.

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Info:
Karl Erich Grözinger: Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik, Bd. 5. Meinungen und Richtungen im 20. und 21. Jahrhundert, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2019, 856 S. Bibliographie zu Jüdisches Denken auf der Website des Verlages https://www.campus .de/isbn/ 9783593511078, 137 S.

Diese Rezension erschien zuerst in der Jüdische Rundschau Nr. 3 (67) März 2020