Das Literaturhaus Basel läßt Autoren sprechen
Felicitas Schubert
Basel (Weltexpresso) - Post vom Literaturhaus Basel: "'«home delivery» liefert Ihnen ab sofort in unregelmässigen Abständen Texte frei ins Haus: Damit wir den Kontakt zu unseren früheren und zukünftigen Gästen trotz Covid-19-Isolation nicht verlieren und damit Sie, liebes Publikum, trotzdem aus erster Hand erfahren, was die Schriftsteller*innen zu sagen haben, haben wir einige von ihnen gebeten, etwas für Sie zu schreiben. Das Thema ist offen, die Autor*innen haben carte blanche. Auerßdem weisen wir mit kurzen Ausschnitten auf Bücher hin, die im Literaturhaus hätten vorgestellt werden sollen."
Das Anschreiben ist noch viel persönlicher: home delivery #5: Rafik Schami
Liebe Besucherinnen und Besucher des Literaturhauses, liebe Leserinnen und Leser
Am 23. März 2020 hätte Rafik Schami sein neues Buch «Die geheime Mission des Kardinals» in Basel vorstellen wollen. «Ein sehr lesenswerter Kriminalroman vom Meistererzähler.» (Denis Scheck, SWR Lesenswert). Der Roman spielt vor dem Krieg in Syrien und verbindet eine spannende Krimihandlung, in der auch verführerische Hymnen auf die orientalische Küche nicht fehlen, mit Einblicken in die Gesellschaft und Analysen des diktatorischen Regimes. «Das farbenprächtige Gesamtbild, das er von Syriens Gesellschaft zeichnet, setzt er zum Teil aus den einzelnen Geschichten seiner Romanfiguren zusammen. Er geht bei jedem der wichtigen Charaktere in die Tiefe, erzählt von ihrer Vergangenheit, ihrem Leid und der Liebe.» (Die Presse)
Das Buch können Sie in allen Basler Buchhandlungen bestellen, z.B. beim Kulturhaus Bider & Tanner, das an diesem Abend neben dem Volkshaus unser Kooperationspartner gewesen wäre.
Heute haben Sie die Gelegenheit, exklusiv auf unserer Website eine Erzählung von Rafik Schami zu lesen, die erst 2021 erscheinen wird: «Oskar, der kleine Prophet».
Und Sie können Rafik Schami auch zuhören, wie er in seiner unvergleichlichen Art von seiner mutigen und rebellischen Mutter erzählt, die aber schreckliche Angst vor dem Meer hatte.
Rafik Schami beginnt:
Wenn Oskar sprach, kamen nur Lügen aus seinem Mund. Seine Mutter sagte, das sei bei ihm schon immer so gewesen, aber sie finde es nie langweilig, was er erzähle.
Sein Vater sagte gar nichts mehr dazu. Er wurde zornig, wenn Oskar zu erzählen begann und die Leute dann laut lachten.
Und wirklich log Oskar das Blaue vom Himmel herunter und Wolken in den klaren Sonnentag hinein. In seinen Geschichten nahmen Katzen in Timbuktu vor winzigen Mäusen Reissaus. In Honolulu flöteten zwei Affen Mozarts Kleine Nachtmusik. In Kanada fielen Schneeflocken, so gross wie Bratpfannen. Und auf Hawaii backten Bäcker eine Nussecke mit den Ausmassen eines Fussballstadions.
Als er vom leckeren Feingebäck schwärmte, wollte ein Nachbar ihn aufziehen: «Woher weisst du das denn? Warst du etwa auch zu dieser gewaltigen Nussecke eingeladen?»
«Ja, und hier hab ich noch ein kleines Stück davon», erwiderte Oskar frech, zog eine Papiertüte aus der Tasche und warf sie dem Nachbarn zu. Und wirklich war ein altes Stück Nussecke in der Tüte. Auf der Tüte stand: Konditorei Hawaii, und in der ganzen Stadt gab es keine Konditorei mit diesem Namen. Nun lachten die Leute den Nachbarn und nicht Oskar aus.
Anders als die meisten Erwachsenen bewunderten ihn die Kinder masslos. «Ja, der Oskar, der weiß Bescheid», sagten sie, wenn sie irgendetwas von ihm wiedergaben - sei es eine Geschichte über ferne Länder oder über eine Wundertat. Manche Erwachsene aber glaubten ihm kein Wort, nicht einmal, wenn er die Uhrzeit angab.
«Bald», erzählte er eines Tages, «wird es Bonbons vom Himmel regnen, und die Kinder werden danach Durchfall bekommen.» Die Kinder schlürften beim Zuhören geräuschvoll ihren Speichel, aber die Eltern und Grosseltern misstrauten seinen Worten. «Bisher sind nur schlechte Sachen vom Himmel gefallen, Bomben oder Hagel, aber keine Bonbons», grummelte ein alter Mann. Er musste es wissen, er war über siebzig Jahre alt und hatte drei Kriege überlebt.
Doch ob man es glaubt oder nicht, eines schönen Sommertages flogen kleine, einmotorige Flugzeuge über die Stadt und warfen jede Menge Bonbons ab. Es war eine Werbeaktion für Staubsauger. Die Kinder stopften die Bonbons gierig in sich hinein, und danach bekamen viele von ihnen Durchfall. Die Staubsaugerfirma ging pleite. Ein paar Nachbarn konnten sich erinnern, dass Oskar es vorausgesagt hatte. Als sie ihn deswegen lobten, schien er sich darüber nicht besonders zu freuen. «Ich hab's eben gewusst», sagte er fast unbeteiligt.
Und diese Nachbarn waren es auch, die ihm seine nächste Prophezeiung als Erste glaubten. Je älter er wurde, desto grösser wurde das Kaliber seiner Behauptungen.
Mit vierzehn verkündete er an einem lauen Frühlingstag, dass ausgerechnet auf einem verödeten Platz am Stadtrand, wo im Sommer der heisse Staub nur so wirbelte und im Winter nichts als eine grosse Schlammpfütze war, etwas Grosses entstehen werde. Er überredete zwei ihm zugeneigte Nachbarn, mit ihm dorthin zu gehen, und dann beschrieb er ihnen, wie es hier künftig aussehen würde.
«Hier», rief er und hob die Hand zu einer ausladenden Geste, «wird ein Palast stehen, ein Theater mit gewaltigem Eingang. Drinnen wird man in Samtsesseln sitzen und Schauspiel und Musik erleben, wie wir es noch nie gesehen oder gehört haben. Die besten Schauspieler und weltberühmte Musiker werden sich hier die Klinke in die Hand geben, und um das Theater herum wird ein neuer Stadtteil entstehen, ein Ort des Vergnügens.»
«Wenn das so ist, dann werden die Leute etwas zu essen brauchen, also wäre ein Restaurant keine schlechte Sache», sagte der eine Nachbar; und er machte ein Restaurant am Rande des staubigen Platzes auf. Der andere eröffnete ein Café, zwei Wochen später eröffnete ein dritter Nachbar einen Souvenirladen, ein vierter einen Supermarkt. Bald kamen ein Friseursalon und ein Blumenladen hinzu, und so gesellte sich ein Laden zum anderen, und immer mehr Leute besuchten aus reiner Neugier den Platz.
Allerdings begannen die Geschäftsinhaber langsam daran zu zweifeln, ob sich Oskars Geschichte jemals bewahrheiten würde, deshalb waren sie zu den Kunden auch ganz besonders freundlich, damit sie wiederkämen. Schnell waren die Händler, Handwerker und Gastwirte dieses Platzes für ihre aussergewöhnliche Freundlichkeit bekannt. Kleine Buden und Kioske säumten die Strassen und Gassen, die nach und nach auf dem gewaltigen Gelände entstanden. Nur ein grosses Feld im Norden blieb eingezäunt und unbebaut. Schon bald hatte man vergessen, weshalb man sich überhaupt hier angesiedelt hatte, und der Platz wurde zum beliebtesten Ort der Stadt.
Eines Tages rumpelten Bagger, Lastwagen und Bulldozer auf jenes Feld. Hunderte von Arbeitern schufteten rund um die Uhr und bauten fleissig ein riesiges Haus.
Zuerst wurde gemunkelt, es solle ein Parkhaus werden; allerdings sah die Fassade mit den gewaltigen Säulen aus Marmor nicht gerade danach aus. Doch bald erfuhr man: Das Stadttheater sollte in einem Jahr seine erste Vorstellung geben, ein namhafter Musiker habe eine Sinfonie eigens für die Eröffnung komponiert.
Die Zeit verging wie im Fluge. Auf zahlreichen kleineren Baustellen bemühte man sich, noch vor dem grossen Ereignis fertig zu werden: Hotels, Bars, ein Krankenhaus, eine Schule, ein Kindergarten, ein Sportplatz, ein Kino, Taxistände und Bushaltestellen wurden eine Woche vor der Theatereröffnung in Betrieb genommen. Eine prächtige Allee führte vom Ufer des Flusses zum Schauspielhaus. Und so sehr sich der Bürgermeister auch anstrengte, den Leuten klarzumachen, dass das neue Theater Stadttheater heisse, sie konnten sich mit dem Namen nicht anfreunden. Etliche erinnerten sich wieder an seine Prophezeiung und sprachen immer nur von Oskars Theater. Und auf den vielen Schildern und Wegweisern, auf denen in grossen Buchstaben das Wort STADTTHEATER stand, sprayten Jugendliche mit roter Farbe Oskars Namen darüber. Wenn ein Fremder nach dem Stadttheater fragte, so antworteten sie: «Ach, Sie meinen Oskars Theater, klar, das liegt am Platz. Sie können es nicht übersehen. Es ist das Gebäude mit dem grossen Eingang, der riesigen Treppe und den hellen Marmorsäulen.»
Oskar half weiterhin seinem Vater im Blumengeschäft, trug die Bestellungen aus und sparte jeden Cent vom Trinkgeld.
Am Tag der Eröffnung fuhren Limousinen und Taxen vor, und elegante Leute stiegen laut lachend aus und gingen über die Marmortreppe ins Theater. Ein Mann im schwarzen Anzug kontrollierte ihre Karten und verneigte sich vor ihnen.
Keiner, nicht einmal der Bürgermeister, dachte an diesem Tag an Oskar.
Doch der zog sich fein an und ging erhobenen Hauptes zum Theater. Er wusste, wie viel ein Platz in der Loge kosten würde. Als er gelassen am Schalter stand, eine Karte verlangte und das abgezählte Geld bereithielt, sagte der Mann hinter der Scheibe: «Es tut mir leid. Wir sind seit Tagen ausverkauft!»
Fassungslos schaute Oskar den Schaltermann an, aber der schüttelte nur unwirsch den Kopf und schnarrte: «Der Nächste bitte!»
Traurig flüsterte Oskar: «Aber ich habe euch doch erfunden.»
«Erfunden?», fragte der Mann fast empört und überreichte dem Besucher hinter Oskar seine reservierte Karte. «Er hat uns erfunden, sagt der Bursche», wiederholte er, und der Gast verstand überhaupt nichts, und es interessierte ihn auch nicht. Hauptsache, er hatte seine Karte.
Oskar ging davon. Er stand allein draussen in einer fernen Ecke und weinte leise.
Foto:
© Arne Wesenberg
Info:;
Text: © Rafik Schami 2019
Literaturhaus Basel