Die Frankfurter Buchmesse im Corona-Jahr 2020
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Von 1966 bis 2006 habe ich berufsbedingt die Frankfurter Buchmesse besucht.
Zum Schluss war es einfacher, zuverlässige Informationen über Inhalte, Autoren, Lesungen oder Vertriebsmarketing per Telefon, E-Mail und Internet bei den Verantwortlichen in den Verlagen abzufragen. Manche Kontakte ließen sich auf diese Weise sogar intensiver pflegen. Und mir wurde zunehmend bewusst, dass sich das Lesemedium Buch am besten durch Texte erklärt. Vor allem durch solche, in denen nicht geschwafelt wird - wie auf unsäglichen Promi-Shows, die eher eine Karikatur der Literatur sind, denn eine Einladung zum Lesen.
Darum bin ich seit ihrer Neubelebung häufiger zur Leipziger Buchmesse gefahren. Man war am eigentlichen Gegenstand, nämlich der Literatur, dichter dran. Diese in Corona-Zeiten nicht mehr gewährleistete Unmittelbarkeit hat die Verantwortlichen in Leipzig zur Absage veranlasst.
Daran hätten sich die Frankfurter ein Beispiel nehmen sollen. Allein die Teilstornierungen wichtiger Belletristik-Verlage sind ein Warnsignal mit Langzeitwirkung. Bertelsmann/Random House und Holtzbrinck belegen im Gegensatz zu früheren Jahren nicht halbe Etagen, sondern lediglich kleine Infostände. Insgesamt werden 70 Prozent weniger Aussteller erwartet als im vergangenen Jahr.
Die Presseerklärungen, die am 28. Mai verbreitet wurden und den Termin 14. bis 18. Oktober bestätigen, erwecken den Eindruck, dass Ausstellungs- und Buchmesse GmbH und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels die Interessen ihrer Kunden kaum noch kennen. Und dass man nach halbgaren Kompromissen sucht, die den Insidern kaum vermittelbar sind. "Die Frankfurter Buchmesse 2020 ist eine Sonderedition – ein eigenes Format mit europäischem Gepräge", erklärt Messe-Direktor Jürgen Boos. Und die Vorsteherin des Börsenvereins, Karin Schmidt-Friderichs ergänzt: "Diese Messe wird nicht wie 2019 sein, sie wird Verlagen und Autoren eine analoge und eine digitale Bühne bieten, und sie wird ein Labor für die Buchmessen 2021 und später sein."
Bis zu 20.000 Menschen dürfen sich laut Abstandskonzept gleichzeitig in den Hallen aufhalten. Neben den Hallen 3, 4 und 6 können dies bei Bedarf auch noch zusätzliche sein. Allenfalls für den Fall einer zweiten Corona-Welle im Herbst kündigt Boos eine eindeutige Entscheidung an: Dann würde die Präsenzmesse abgesagt, das virtuelle Programm aber wie geplant laufen.
Mein Eindruck: Zaudern, zögern, Chancen verstreichen lassen. Die Buchmesse GmbH hätte absagen sollen und aus ihrer Absage eine Ansage machen können. Beispielsweise die Ankündigung einer völlig neuartigen „Frankfurter Buchmesse digital“. Was praktisch einer digitalen, alphabetisch nach Verlagsnamen sortierten Verlagsvorschau im Internet entspräche. Mit zusätzlich angehängten Probeseiten der neuen Romane und Sachbücher, idealerweise ergänzt um Kurz-Hörbücher. Innerhalb eines professionell betreuten Blogs ließe sich auf die Anfragen der Fachbesucher und des literarisch interessierten Publikums eingehen, wodurch Messegespräche hätten adäquat ersetzt werden können. Dadurch ließen sich auch Einnahmen generieren.
Das alles mit deutlicher Distanz zu dissozialen Netzen wie Facebook, Instagram, Whatsapp & Co. Um nicht unerwünschte Besucher (Persönlichkeitsgestörte, Pornografie-Konsumenten, Rechtsradikale, Verschwörungsfanatiker) anzulocken.
Dort, wo die Räumlichkeiten und deren zentrale Lage es gestatten, hätten sich in das Konzept eingebettete Lesungen unter Corona-Rahmenbedingungen durchführen lassen; Übertragungen ins Internet inklusive.
Aus den Erfahrungen einer solchen Messe der ganz anderen Art wären zumindest Ansätze für neue Perspektiven und zukunftsfähige Modelle entstanden. Selbst falls diese Zukunft nicht mehr von Corona bestimmt sein sollte. Denn eine andere Katastrophe greift bereits in unser Leben ein, die Klimaveränderung. Sie zwingt auch die gesamte Medienbranche zu tragfähigen Lösungen.
Warum lässt man sich die Gelegenheit für die Erprobung einer Alternative entgehen? Mangelt es an Phantasie? Fühlt man sich von Kommunalpolitikern unter Druck gesetzt? Ausgerechnet von solchen, die ihr gebrochenes Verhältnis zur Kultur seit Monaten bei der Krise um den Fortbestand der Frankfurter Theaterdoppelanlage unter Beweis stellen?
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Frankfurter Buchmesse 2020. Eine Komposition aus Weite und Leere?
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