images 1Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im August 2020 , Teil 1

Elisabeth Römer 

Hamburg  (Weltexpresso) - Diesmal überfordert die Jury alle, die zum Herauskommen der Liste schon gerne etwas über ausgewählten Bücher geschrieben hätten, was dann möglich ist, wenn vom Vormonat noch Krimis übrig waren, die damals noch nicht gelesen, jetzt aber zum Besprechen längst durchgelesen, analysiert und fertig zum Besprechen sind. In der Regel bleibt die Hälfte der Krimis auf der Liste stehen und die andere Hälfte besteht aus neuen Kriminalromanen. Doch diesmal sind es ganze sieben Neue. 

Es bleiben  also nur Zoë Beck mit PARADISE CITY aus dem Suhrkamp Verlag, vom vierten Rang des Juli auf den ersten Platz vorgerückt.  Deshalb mußte Guillermo Martínez' DER FALL ALICE IM WUNDERLAND, Eichborn Verlag, seinen Platz 1 des Vormonats räumen und ist mit dem dritten Rang aber hochkarätig geblieben.  Hideo Yokoyamas 50 von Artium, vom zweiten auf den 5. runtergerutscht.Jetzt aber zum Ersten Rang für Zoë Becks neuen Krimi! Dazu schreibt Tobias Gohlis: bwohl Paradise City in hundert Jahren spielt, kommt einem vieles darin wie der gegenwärtige Albtraum vor, nur etwas albtraumhafter. Nach etlichen Epidemien ist die Bevölkerung stark reduziert, wohl überwacht durch die Gesundheits-App KOS (analog zu Äskulaps Insel, wie mir die Autorin verriet) und ausgestattet mit dem Allround-Smartcase als Bindeglied zur Kontrollinstanz dämmert sie satt und zufrieden in Megacities vor sich hin, eingelullt von den Staatsmedien, die als Alibi für eine autoritäre, formal aber noch bestehende Demokratie so etwas wie die unabhängige Agentur GALLUS dulden.

Als eine unabhängige Investigativjournalistin ermordet wird und der Agenturchef unter die U-Bahn stürzt, sammeln die Mitarbeiterinnen alle Kräfte, um herauszufinden, wer ihnen warum ans Leben will.

In ihrem elften Kriminalroman zeigt die vielfach ausgezeichnete 1975 geborene feministisch stark engagierte Zoë Beck eine Gesellschaft, in der Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe keine diskriminierende Rolle mehr spielen. Viele Ungleichheiten, unter denen heute gelitten wird, scheinen abgeräumt. Umso zentraler ist die Frage: Wer hat die Macht und wie wird sie ausgeübt?

Erzählt wird diese keineswegs abstrakte Dystopie aus der Perspektive der Rechercheurin Liina. Ausgestattet mit einem inzwischen zweiten Spenderherzen ist sie Nutznießerin wie Objekt der modernen medizinischen Technik und ihres Kontrollwahns. Das Riskante und Provozierende dieses Thrillers ist die Frage, ob wir es so weit kommen lassen, dass wir uns zwischen Gesundheit und Freiheit entscheiden müssen.

„Die Spannung des Szenarios resultiert nicht so sehr aus dem Rätsel. Sondern aus der Spekulation, aus dem Entwurf einer Zukunft. Einige Linien scheinen direkt aus unserer Gegenwart in sie hineinzuführen. Die Gesundheits-App ist schon heute der heimliche Traum der Kassen, Gesundheitskonzerne und Ämter, und wenn man den milden Selbstoptimierungswahn verschärft und flächendeckend werden lässt, ist man schnell in Paradise City. (...)Paradise City ist ein beunruhigendes Buch.“ (Peter Körte, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)


DIE KRIMIBESTENLISTE AUGUST 2020

1(4)
Zoë Beck
Paradise City
Suhrkamp, 280 Seiten, 10 Euro

Deutschland in 100 Jahren. Der Norden unter Wasser, Gesundheits-App KOS
wacht, fast alle sind zufrieden. Nur Liina und Kollegen widerstehen, sie arbeiten
für die „Wahrheitspresse“. Erst recht, als eine Kollegin ermordet wird. Gesund sein
oder frei sein? Brennende Fragen, zum Mitfiebern.



2(-)
Lee Child
Der Bluthund
Aus dem Englischen von Wulf Bergner.
Blanvalet, 448 Seiten, 22 Euro


Wyoming. Beim Umsteigen ersteht Reacher antiquarisch einen Westpoint-Ring,
ahnt Schlimmes für die Besitzerin. Im entlegensten Bergtal stößt der Einzelkämpfer, mit Kumpels diesmal, auf reine Opioide, Fluch und für manche auch Segen.
Reacher ist zarter als sonst, jedenfalls zu den Guten. Echt stark.



3(1)
Guillermo Martínez
Der Fall Alice im Wunderland
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Eichborn, 320 Seiten, 16 Euro

Oxford 1994. Aufruhr in der Lewis-Carroll-Bruderschaft: Doktorandin Kristen
hat einen Hinweis auf die verschwundene Tagebuchseite vom Juni 1863, die Aufschluss über Carrolls wahres Verhältnis zu Alice geben könnte. Ganz heißes Thema. Mordanschläge häufen sich. Mitreißender Metakrimi, großer Gehirnspaß.



4(-)
William Boyle
Eine wahre Freundin
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf.
Polar, 364 Seiten, 22 Euro

Brooklyn, Bronx, Monroe. Drei starke Frauen: Rena, fromme Mafioso-Witwe, verteidigt ihre Ehre mit einem Aschenbecher. Lacy, einst berühmte Pornodarstellerin,
nimmt, was sie kriegen kann. Und Renas Enkelin Lucia testet aus, was geht. Superbe Mischung aus Frauensolidarität, Gewalt und Komik.



5(2)
Hideo Yokoyama         
50
Aus dem Japanischen von Nora Bartels.
Atrium, 352 Seiten, 22 Euro

Japan, „Präfektur W“. Der angesehene Polizist Kaji hat seine an Alzheimer erkrankte Frau auf deren Bitte getötet und stellt sich zwei Tage später. Polizei, Justiz und
Presse wollen den Geständigen knacken: Was hat er nach dem Mord in Tokios Rotlichtviertel getan? Ergreifendes Drama um Regeln, Anstand, Scham.



6(-)
Max Annas
Morduntersuchungskommission.
Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten, 20 Euro

Gera, Jena 1985. Melchior war Bassist einer Punk-Band. Jetzt liegt der 19-Jährige
tot im Schuppen. Die Ermittler stöbern in unsozialistischem Familiendreck: Kriegsverbrechen, Diebstahl, Prügel. Freundin Julia erzählt von Aufbruch, Musik, Liebe
und Verrat. Hommage an Punk, die Sehnsucht frei zu sein.



7(-)
James Lee Burke
Blues in New Iberia
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger.
Pendragon, 586 Seiten, 22 Euro

New Iberia. Detective Robicheaux liebt Louisiana „wie eine Religion“. Und die wird beschmutzt von einem Serienmörder aus der Mythenfabrik Hollywood: Frauen treiben ans Kreuz genagelt auf dem Meer. Stellen kann das Böse nur, wer den Tod hinter sich gelassen hat. Eine Naturgewalt von einem Roman.



8(-)
Joseph Incardona
One-Way-Ticket ins Paradies
Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow.
Lenos, 310 Seiten, 22 Euro

„Nomad Island“ im Indischen Ozean. Eine Schweizer Mittelklassefamilie, gestresst wie alle, hat den großen Traumurlaub gebucht. All inclusive beginnt mit leisem
Horror, aus Glück wird vollversorgter Gutfühl-Knast, ganz sanft und unnachgiebig. Club Med noir. Horrorfiction für Sesselreisende.



9(-)
Lauren Wilkinson
American Spy
Aus dem Englischen von Antje Althans et al.
Tropen, 366 Seiten, 16 Euro

USA, Burkina Faso. Ein überlebter Mordanschlag zwingt Marie Mitchell, sich ihrer
Vergangenheit zu stellen. Die CIA engagierte die ehrgeizige Afroamerikanerin als
Honigfalle für den charismatischen Präsidenten von Burkina Faso. Nicht eingeplant im Kalten Krieg: die Liebe. Obama hat es gern gelesen.



10(-)
Tommie Goerz
Meier
Ars Vivendi, 164 Seiten, 18 Euro

Franken. Zehn Jahre hat Meier unschuldig gesessen für Mord. Jetzt ist er raus, repariert Autos und hebt abgesunkene Scheunen. Schön ist das Leben, schöner die Rache. Im Knast hat er gelernt, wie man Täuscher und Betrüger aufs Kreuz legt. Knochentrocken serviert, die Ballade vom zufriedenen Knacki.



Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane des Monats März 2020 sind allerdings nur noch über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2020 nur noch im Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?

An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur.

Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury | Volker Albers, „Hamburger
Abendblatt“ | Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR | Gunter Blank,
„Rolling Stone“ | Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ | Hanspeter
Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ | Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ | Sonja Hartl, „Zeilenkino“,
„Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ | Hannes Hintermeier, „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ | Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung“ | Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ | Kolja Mensing,
„Deutschlandfunk Kultur“ | Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ | Ulrich
Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR | Frank
Rumpel, SWR | Ingeborg Sperl, „Der Standard“ | Sylvia Staude,
„Frankfurter Rundschau“ | Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Foto:
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