Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im August 2020 , Teil 2
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein hinreißender Roman, bei dem man beim Lesen zwischendurch den Eindruck hat, der Roman liest einen, so liest er sich von alleine und man wundert sich, wenn er nach 355 Seiten zu Ende ist. Und vermißt etwas.
Zugegeben, manchmal zieht es sich auch ein bißchen, aber das liegt am Thema, das ab Seite 27 FLUCHT heißt. Zwar ändert sich immer wieder die personelle Zusammensetzung der Flüchtigen, wohin sie fliehen und die Fluchtwege dorthin auch, aber ganz besonders sind es die Fluchtvehikels, die sich ändern, lange ganz besondere und besonders gepflegte Automobile, die sich aber gegenseitig so demolieren, ja zu Tode fahren, daß die Überlebenden – und es sind die richtigen, die überleben, diese mehr als schrägen Frauen mitsamt einer so was von biederen Hausfrau, übrigens fromme Witwe eines Mafioso – also, daß die Überlebenden sogar barfuß weiterlaufen, Busse nehmen oder zu guter Letzt dann doch das Taxi nehmen, so daß am Schluß die biedere Hausfrau wieder in ihrem trauten Heim gelandet ist, mit dem Unterschied, daß es mit ihrem biederen Leben vorbei ist, denn sie sind alle mitgekommen, die schrägen Frauen, zu denen auch ihre Enkeltochter gehört – ja und der Taxifahrer bleibt auch gleich da, wenigstens einen Mann zum Einkaufen und Fahren, vielleicht auch Gärtnerarbeiten oder Hausarbeiten, kann man doch ganz gut brauchen. Mehr allerdings braucht’s auch nicht. Das ist nach diesem Krimi klar. Wußte man aber tief im Inneren auch vorher.
Vielleicht traut sich auch nur ein Mann, eine solche Frauenwumme niederzuschreiben, wo man übrigens in jeder Zeile die vollbusigen, ja auch barbusigen, leicht ordinär angezogenen Frauen vor sich sieht, wie im Film. Und schon ist man in die eigene Falle getappt, denn das stimmt überhaupt nicht, von dieser Qualität ist eigentlich nur die ehemalige Pornodarstellerin namens Mo, die gerade das Ableben ihrer, von ihr ordentlich zu Tode gepflegten Mutter gerade mit Champagner feiert, nachdem sie wirklich zwei Jahre lang ihre eigenes lockeres Leben in ihrem Haus in der Bronx eingetauscht hatte gegen die volle Pflege der Bettlägerigen, das Hinternabwischen und ...inkluse. Auch hier nimmt der Autor kein Blatt vor den Mund.
Höchste Zeit, auch noch von den Häusern zu sprechen, die im Roman eine genauso wichtige Rolle spielen wie die Autos. Und deshalb fangen wir – wie die Geschichte - jetzt im Haus von Rena in Brooklyn an, der Witwe des Mafiobosses Gentle Vic Ruggiero, die vom aufdringlichen Nachbarn Enzio eingeladen, einen harmlosen Besuch machen möchte, den der mit Viagra und einem laufenden Porno Aufgepuschte aber mit dem Auftakt zu mehr verwechselt. Kein Wunder, daß die Ehrbare, Aufgebrachte ihm mit dem schweren Aschenbecher eins über zieht. Und ab da verselbständigt sich für sie alles, geschieht das Weitere zwangsläufig. Sie sieht das Blut, hält ihn für tot, sieht den Autoschlüssel seines so gepflegten Wagens, nimmt ihn und fährt schnurrstracks zu ihrer zänkischen Tochter Adrienne, die mit der Enkelin Lucia alleine lebt , Haare auf den Zähnen hat, von ihrer Mutter nichts wissen will und die Tochter drangsaliert.
Die hilflose Rena wird von der Nachbarin Lacey Wolfstein, nur Wolfstein oder auch Wolfie genannt, die für mich die zentrale und positive Figur der Geschichte – aufgenommen, wohin auch Lucia mit dem Köfferchen flieht, denn der Gangster Richie, der die Fuchtel Adrienne aufrichtig liebt, hat den Supercoup vor, wird mit einer halben Million geklautem Geld gleich vor der Tür stehen und mit ihr und der Tochter abhauen.
Ab da überstürzen sich die Ereignisse. Bei Wolfstein, die als beste Freundin und Pornofilmpartnerin von Mo in deren Haus lebt, nachdem beide jahrelang reiche Rentner in Florida um so je 20-50 000 erleichtert hatten, mehr Geld nicht, damit diese sich nur dezent ärgen, findet sich einer der getäuschten Liebhaber ein, aber es kommt auch Adrienne, die ihre Tochter sucht, dann kommt auch Richie, der Adrienne und Lucis sucht und dessen Auto mit dem Geld vor der Tür steht, doch auch der von ihm ausgeplünderte Crea steht mit seinem Wagen vor der Tür und mit dem Hammer im Haus. Es geht übel aus.
Nein, Sie müssen das einfach selber lesen. Die rasante Flucht des Frauentrios, das bei Mo zum Quartett wird, hat zum Ergebnis, daß die richtigen Männer sterben und die richtigen Frauen überleben. Dazu gehört die fromme Rena, im gewissen Sinn die Lieblingsfigur des Autors, so nachsichtig ist er mit ihr, die mit ihrem Gott im Reinen ist. Die Enkelin Lucia ist die schwierigste Figur im Roman, an der man sich ganz schön reibt, denn sie ist töricht und widerspenstig in einer Art, mit der man nicht lebensklug, sondern dumm wird. Hoffen wir, daß die Aufzucht und Aufsicht, die ihr ab jetzt zuteil wird, einen guten Einfluß auf sie, ihr soziales Lernen und ihr Gesinnung hat. Aber das ist kein Buch für und von jungen Mädchen, sondern es ist eine Hommage an die reife Frau an und für sich, an die gewesenen Göttinen eben.
P.S. Wenn noch nicht gelesen, sollten Sie den New York Experten auch mit seinem Erstling GRAVESEND und EINSAME ZEUGIN, beide Polar, genießen.
Fortsetzung folgt.
DIE KRIMIBESTENLISTE AUGUST 2020
1(4)
Zoë Beck
Paradise City
Suhrkamp, 280 Seiten, 10 Euro
Deutschland in 100 Jahren. Der Norden unter Wasser, Gesundheits-App KOS
wacht, fast alle sind zufrieden. Nur Liina und Kollegen widerstehen, sie arbeiten
für die „Wahrheitspresse“. Erst recht, als eine Kollegin ermordet wird. Gesund sein
oder frei sein? Brennende Fragen, zum Mitfiebern.
2(-)
Lee Child
Der Bluthund
Aus dem Englischen von Wulf Bergner.
Blanvalet, 448 Seiten, 22 Euro
Wyoming. Beim Umsteigen ersteht Reacher antiquarisch einen Westpoint-Ring,
ahnt Schlimmes für die Besitzerin. Im entlegensten Bergtal stößt der Einzelkämpfer, mit Kumpels diesmal, auf reine Opioide, Fluch und für manche auch Segen.
Reacher ist zarter als sonst, jedenfalls zu den Guten. Echt stark.
3(1)
Guillermo Martínez
Der Fall Alice im Wunderland
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Eichborn, 320 Seiten, 16 Euro
Oxford 1994. Aufruhr in der Lewis-Carroll-Bruderschaft: Doktorandin Kristen
hat einen Hinweis auf die verschwundene Tagebuchseite vom Juni 1863, die Aufschluss über Carrolls wahres Verhältnis zu Alice geben könnte. Ganz heißes Thema. Mordanschläge häufen sich. Mitreißender Metakrimi, großer Gehirnspaß.
4(-)
William Boyle
Eine wahre Freundin
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf.
Polar, 364 Seiten, 22 Euro
Brooklyn, Bronx, Monroe. Drei starke Frauen: Rena, fromme Mafioso-Witwe, verteidigt ihre Ehre mit einem Aschenbecher. Lacy, einst berühmte Pornodarstellerin,
nimmt, was sie kriegen kann. Und Renas Enkelin Lucia testet aus, was geht. Superbe Mischung aus Frauensolidarität, Gewalt und Komik.
5(2)
Hideo Yokoyama
50
Aus dem Japanischen von Nora Bartels.
Atrium, 352 Seiten, 22 Euro
Japan, „Präfektur W“. Der angesehene Polizist Kaji hat seine an Alzheimer erkrankte Frau auf deren Bitte getötet und stellt sich zwei Tage später. Polizei, Justiz und
Presse wollen den Geständigen knacken: Was hat er nach dem Mord in Tokios Rotlichtviertel getan? Ergreifendes Drama um Regeln, Anstand, Scham.
6(-)
Max Annas
Morduntersuchungskommission.
Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten, 20 Euro
Gera, Jena 1985. Melchior war Bassist einer Punk-Band. Jetzt liegt der 19-Jährige
tot im Schuppen. Die Ermittler stöbern in unsozialistischem Familiendreck: Kriegsverbrechen, Diebstahl, Prügel. Freundin Julia erzählt von Aufbruch, Musik, Liebe
und Verrat. Hommage an Punk, die Sehnsucht frei zu sein.
7(-)
James Lee Burke
Blues in New Iberia
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger.
Pendragon, 586 Seiten, 22 Euro
New Iberia. Detective Robicheaux liebt Louisiana „wie eine Religion“. Und die wird beschmutzt von einem Serienmörder aus der Mythenfabrik Hollywood: Frauen treiben ans Kreuz genagelt auf dem Meer. Stellen kann das Böse nur, wer den Tod hinter sich gelassen hat. Eine Naturgewalt von einem Roman.
8(-)
Joseph Incardona
One-Way-Ticket ins Paradies
Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow.
Lenos, 310 Seiten, 22 Euro
„Nomad Island“ im Indischen Ozean. Eine Schweizer Mittelklassefamilie, gestresst wie alle, hat den großen Traumurlaub gebucht. All inclusive beginnt mit leisem
Horror, aus Glück wird vollversorgter Gutfühl-Knast, ganz sanft und unnachgiebig. Club Med noir. Horrorfiction für Sesselreisende.
9(-)
Lauren Wilkinson
American Spy
Aus dem Englischen von Antje Althans et al.
Tropen, 366 Seiten, 16 Euro
USA, Burkina Faso. Ein überlebter Mordanschlag zwingt Marie Mitchell, sich ihrer
Vergangenheit zu stellen. Die CIA engagierte die ehrgeizige Afroamerikanerin als
Honigfalle für den charismatischen Präsidenten von Burkina Faso. Nicht eingeplant im Kalten Krieg: die Liebe. Obama hat es gern gelesen.
10(-)
Tommie Goerz
Meier
Ars Vivendi, 164 Seiten, 18 Euro
Franken. Zehn Jahre hat Meier unschuldig gesessen für Mord. Jetzt ist er raus, repariert Autos und hebt abgesunkene Scheunen. Schön ist das Leben, schöner die Rache. Im Knast hat er gelernt, wie man Täuscher und Betrüger aufs Kreuz legt. Knochentrocken serviert, die Ballade vom zufriedenen Knacki.
Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?
WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste erscheint am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane des Monats März 2020 sind allerdings nur noch über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2020 nur noch im Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?
An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury | Volker Albers, „Hamburger
Abendblatt“ | Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR | Gunter Blank,
„Rolling Stone“ | Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ | Hanspeter
Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ | Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ | Sonja Hartl, „Zeilenkino“,
„Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ | Hannes Hintermeier, „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ | Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung“ | Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ | Kolja Mensing,
„Deutschlandfunk Kultur“ | Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ | Ulrich
Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR | Frank
Rumpel, SWR | Ingeborg Sperl, „Der Standard“ | Sylvia Staude,
„Frankfurter Rundschau“ | Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“
Foto:
© Cover
Info:
William Boyle, Eine wahre Freundin, Polar Verlag, 2020