Bildschirmfoto 2020 08 09 um 22.51.05Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im August 2020 , Teil 3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Über und von Jack Reacher zu lesen, macht einfach Spaß. Nicht, weil er wie im Kinothriller oder auch als Anleitung zum Glücklichsein als Ex-Militärpolizist und fast Zwei-Meter-Mann mit 110 kg leichfüßig gleich fünf Gegner schachmatt setzt und uns an seiner strategisch-taktischen Überlegung, wie ihm das gelingt, Zug um Zug teilhaben läßt, was ja amüsant, aber auch ein bißchen unwahrscheinlich ist, sondern weil wir mit ihm, dem Tramp, so viel über das ländliche Amerika, das Trumpland, erfahren, so viel, wie sonst nirgends!

Im Ernst. Wenn Reacher tagaus/tagein, echt pausenlos über die kleinen und die großen Straßen unterwegs ist, als Anhalter oder Mitfahrer, was etwas anderes ist, was Sie noch kennenlernen, lernt man nicht nur die unendlichen Weiten kennen, die Ödnis, die Verlorenheit, das ausgetrocknete, abgestorbene, ja verblichene Amerika, sondern auch deren Bewohner, davon gleich mehr.

Also echt, BLUTHUND fängt saugut an, wobei – oh Schreck - von Anfang an Reacher fast menschlich wird. Denn mit seinem Wehschmerz, daß sich die Gelegenheitsliebe, die ihm behagte, vom Acker machte, nicht mit ihm leben möchte und ihm das auch noch etwas ausmacht, damit lernen wir eine neue Seite von Jack Reacher kennen, dessen Markenzeichen ja bisher war, daß er immer derselbe aufrechte, aber im Alleinsein Geübte und immer wieder dahin Zurückfallende war. Jeden Tag alles neu, der Ort, die Unterkunft, zumindest jeden zweiten die Kleidung, die er neu kauft und die gebrauchte zum Wegwerfen zurückläßt – wie die Menschen. Und nun löst die Abwesenheit einer Frau in ihm solche Gefühle und Reflexionen, ja regelrechte Phantasien, aua, sogar Sehnsüchte aus, als ich je von Reacher erwartet hätte.

Oder ändert hier der Autor in seinem 22. Band gerade Reachers Wesenszüge in der Richtung: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu? Und was heißt überhaupt Autor. Was an den Gerüchten, nein, sogar Äußerungen dran ist, das Lee Child zusammen mit seinem Bruder schreiben wird, der dann sogar die Serie allein weiterführen soll, das alles wissen wir nicht und bleiben lieber dicht am Buch. Und da gibt es außer mentalen Veränderungen bei Jack Reacher auch an seinem Verhalten etwas völlig Neues: er arbeitet nicht mehr allein, sondern es kommt zu einem ausgesprochen harmonischem Dreierbündnis.

Und so beginnt die Geschichte: wie immer fährt Reacher mit dem nächsten Bus einfach los zur Endstation. Als es einen Halt gibt, schaut er zufällig in das Fenster eines Altwarenladens, sieht einen Ring, geht hinein, läßt sich den Ring zeigen: ein Purple Heart, eine militärische Auszeichnung, die kaum jemand verhökert, dazu ist der Ring so klein, daß er von einer Frau stammen muß. Das interessiert ihn. Er bleibt einfach da und erfährt zumindest, von wem der Händler den Ring bekam.

Als er diesen ziemlich ekligen Typen, Besitzer eines Waschsalons, in dem niemand wäscht, aufsucht, weiß der von nichts, aber Reacher bemerkt, daß jemand den Laden beobachtet. Das wird der erste Komplize. Ein Rechtsanwalt, der als Privatdetektiv für eine sehr reiche und feine Dame deren Schwester sucht, die verschwunden ist. Es entwickelt sich ein komplexes Suchsystem, wo man immer wieder an den Hasen und den Igel denken muß, wer schneller kombiniert und wer schneller hinfindet, denn es geht um verlassene Häuser in verlassenen Gegenden. Aber im Kern geht es um die Abhängigkeit eines großen Teils der ‚normalen‘ Landbevölkerung von Drogen, die in Form von Pflastern, die unter die Zunge gelegt werden, sprich: alle möglichen Arten von Medikamenten, die eigentlich der Schmerzlinderung dienen:  Benzodiazepine,  Antidepressiva und einige Opioide.  eingenommen werden und absolut süchtig machen.

Und darum ist DER BLUTHUND besonders gut, weil er uns erklärt, warum und wie die Landbevölkerung süchtig wird. In welchem Ausmaß diese Drogen in den USA eingenommen werden, liest man dann in der Zeitung. Im Buch bekommen wir mit, wie das gemacht wird, bei völliger staatlicher Kontrolle der Medikamentenproduktion, dennoch lastwagenweise das Zeug zu entführen, ohne daß es in den Papieren auftaucht.

Schon lange ist die Auftraggeberin des Rechtsanwalts, die ihre Zwillingsschwester sucht, bei der Recherche mit dabei und schon früh ahnen wir, daß die gesuchte Person, die Schwester, und die Trägerin des Rings identisch sind. Auch das ist spannend geschrieben, weil es um Zwillinge geht, die einerseits eine völlig unterschiedliche Erwachsenenbiographie haben, andererseits eine tiefe innere Zwillingsverbundenheit. Ohne die Autos des Privatdetektivs und der reichen Schwester hätte Reacher alt ausgesehen, denn hier auf den Seitenwegen und unbefestigten Straßen kommt selten ein Auto vorbei. Und wenn, dann schaut man genau hin.

Dieses genaue Schauen, die Kombinationsfähigkeit von Jack Reacher löst auch diesen, erst einmal unlösbaren Fall und macht uns auf vielfache Weise klüger. Weiser auch.

Übrigens ist Jack Reacher immer wieder auf der Krimibestenliste zu finden: Wespennest, 61 Stunden...

Fortsetzung folgt.


DIE KRIMIBESTENLISTE AUGUST 2020

1(4)
Zoë Beck
Paradise City
Suhrkamp, 280 Seiten, 10 Euro

Deutschland in 100 Jahren. Der Norden unter Wasser, Gesundheits-App KOS
wacht, fast alle sind zufrieden. Nur Liina und Kollegen widerstehen, sie arbeiten
für die „Wahrheitspresse“. Erst recht, als eine Kollegin ermordet wird. Gesund sein
oder frei sein? Brennende Fragen, zum Mitfiebern.

2(-)
Lee Child
Der Bluthund
Aus dem Englischen von Wulf Bergner.
Blanvalet, 448 Seiten, 22 Euro

Wyoming. Beim Umsteigen ersteht Reacher antiquarisch einen Westpoint-Ring,
ahnt Schlimmes für die Besitzerin. Im entlegensten Bergtal stößt der Einzelkämpfer, mit Kumpels diesmal, auf reine Opioide, Fluch und für manche auch Segen.
Reacher ist zarter als sonst, jedenfalls zu den Guten. Echt stark.

3(1)
Guillermo Martínez
Der Fall Alice im Wunderland
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Eichborn, 320 Seiten, 16 Euro

Oxford 1994. Aufruhr in der Lewis-Carroll-Bruderschaft: Doktorandin Kristen
hat einen Hinweis auf die verschwundene Tagebuchseite vom Juni 1863, die Aufschluss über Carrolls wahres Verhältnis zu Alice geben könnte. Ganz heißes Thema. Mordanschläge häufen sich. Mitreißender Metakrimi, großer Gehirnspaß.

4(-)
William Boyle
Eine wahre Freundin
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf.
Polar, 364 Seiten, 22 Euro

Brooklyn, Bronx, Monroe. Drei starke Frauen: Rena, fromme Mafioso-Witwe, verteidigt ihre Ehre mit einem Aschenbecher. Lacy, einst berühmte Pornodarstellerin,
nimmt, was sie kriegen kann. Und Renas Enkelin Lucia testet aus, was geht. Superbe Mischung aus Frauensolidarität, Gewalt und Komik.

5(2)
Hideo Yokoyama
50
Aus dem Japanischen von Nora Bartels.
Atrium, 352 Seiten, 22 Euro

Japan, „Präfektur W“. Der angesehene Polizist Kaji hat seine an Alzheimer erkrankte Frau auf deren Bitte getötet und stellt sich zwei Tage später. Polizei, Justiz und
Presse wollen den Geständigen knacken: Was hat er nach dem Mord in Tokios Rotlichtviertel getan? Ergreifendes Drama um Regeln, Anstand, Scham.


6(-)
Max Annas
Morduntersuchungskommission.
Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten, 20 Euro

Gera, Jena 1985. Melchior war Bassist einer Punk-Band. Jetzt liegt der 19-Jährige
tot im Schuppen. Die Ermittler stöbern in unsozialistischem Familiendreck: Kriegsverbrechen, Diebstahl, Prügel. Freundin Julia erzählt von Aufbruch, Musik, Liebe
und Verrat. Hommage an Punk, die Sehnsucht frei zu sein.


7(-)
James Lee Burke
Blues in New Iberia
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger.
Pendragon, 586 Seiten, 22 Euro

New Iberia. Detective Robicheaux liebt Louisiana „wie eine Religion“. Und die wird beschmutzt von einem Serienmörder aus der Mythenfabrik Hollywood: Frauen treiben ans Kreuz genagelt auf dem Meer. Stellen kann das Böse nur, wer den Tod hinter sich gelassen hat. Eine Naturgewalt von einem Roman.


8(-)
Joseph Incardona
One-Way-Ticket ins Paradies
Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow.
Lenos, 310 Seiten, 22 Euro

„Nomad Island“ im Indischen Ozean. Eine Schweizer Mittelklassefamilie, gestresst wie alle, hat den großen Traumurlaub gebucht. All inclusive beginnt mit leisem
Horror, aus Glück wird vollversorgter Gutfühl-Knast, ganz sanft und unnachgiebig. Club Med noir. Horrorfiction für Sesselreisende.


9(-)
Lauren Wilkinson
American Spy
Aus dem Englischen von Antje Althans et al.
Tropen, 366 Seiten, 16 Euro

USA, Burkina Faso. Ein überlebter Mordanschlag zwingt Marie Mitchell, sich ihrer
Vergangenheit zu stellen. Die CIA engagierte die ehrgeizige Afroamerikanerin als
Honigfalle für den charismatischen Präsidenten von Burkina Faso. Nicht eingeplant im Kalten Krieg: die Liebe. Obama hat es gern gelesen.


10(-)
Tommie Goerz
Meier
Ars Vivendi, 164 Seiten, 18 Euro

Franken. Zehn Jahre hat Meier unschuldig gesessen für Mord. Jetzt ist er raus, repariert Autos und hebt abgesunkene Scheunen. Schön ist das Leben, schöner die Rache. Im Knast hat er gelernt, wie man Täuscher und Betrüger aufs Kreuz legt. Knochentrocken serviert, die Ballade vom zufriedenen Knacki.


Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane des Monats März 2020 sind allerdings nur noch über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2020 nur noch im Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?

An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur.

Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury | Volker Albers, „Hamburger
Abendblatt“ | Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR | Gunter Blank,
„Rolling Stone“ | Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ | Hanspeter
Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ | Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ | Sonja Hartl, „Zeilenkino“,
„Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ | Hannes Hintermeier, „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ | Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung“ | Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ | Kolja Mensing,
„Deutschlandfunk Kultur“ | Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ | Ulrich
Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR | Frank
Rumpel, SWR | Ingeborg Sperl, „Der Standard“ | Sylvia Staude,
„Frankfurter Rundschau“ | Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Foto:
© Cover

Info:
Lee Child, Der Bluthund. Ein Jack-Reacher-Roman, Blanvalet 2020