americanspySerie: DIE KRIMIBESTENLISTE im August 2020 , Teil 4

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein Krimi als Brief an die noch sehr kleinen Kinder, der geschrieben wird, weil die Mutter es für wahrscheinlich hält, daß sie umgebracht wird, was mit dem Vater der Kinder zu tun hat, der aus politischen Gründen ermordet wurde, ein Vater, von dem weder ihre Eltern noch sonst wer weiß, den aber die Kinder, wenn sie groß sind, kennenlernen und in seiner historischen Bedeutung erkennen sollen. So ein Krimi ist mir noch nicht untergekommen und als ich den Namen des Vaters erst einmal beiläufig las, traf mich fast der Schlag: Thomas Sankara!

Keine Ahnung, wer von den heutigen Krimilesern die erschütternden Berichte in den 80er Jahre aus Burkina Faso, wie Sankara das ehemalige Obervolta , das unter französischer Herrschaft stand, umbenannte in das „Land der Gerechten“, heute noch kennt. Aber auch bei Unkenntnis muß man keine Bange haben, Lauren Wilkinson entschlüsselt die Geschichte auf für die, die die Namen und die Vorgänge nicht kennen. Aber, wer sie kennt, dem rinnt auch heute noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn im Roman von dem hoffnungsvollen Politiker und seiner brutalen Ermordung mitsamt von 12 Anhängern die Rede ist – biblische Zahlen: Jesus und seine Jünger. Der Mord vom 15. Oktober 1987 an dem damaligen Präsidenten von Burkina Faso, der 1983 durch einen Staatsstreich in sein Amt kam, und seinen engsten Gefolgsleuten ist mir bis heute eine tiefe Wunde.

Aber das ist ja kein Sachbuch, sondern ein Krimi! Die Geschichte ist spannend und spielt von 1962, das erste Datum, das der Brief erwähnt, bis 1992, wo der Brief geschrieben wird. Wir sind hauptsächlich am Schauplatz New York, dann aber auch auf der Insel Martinique, in Connecticut sowie 1987 in Ouagadougou, Hauptstadt von Burkina Faso, und in Ghana. Wenn ausdrücklich betont wird, daß alle Figuren, bis auf die berühmten historisch Persönlichkeiten erfunden sind, aber auch „die geschilderten Situationen, Ereignisse und Dialoge reale historische Figuren betreffend sind frei erfunden“ gilt, dann kommt man schon ins Grübeln, ob das so zulässig ist, einem erst 1987 Ermordeten eine Liaison und Kinderzeugung sozusagen ins Bett zu legen, der selbst ein Ehefrau und Kinder hatte, die überlebten. Bei Figuren der Geschichte in den vorvergangenen Jahrhunderten sind wir da frei, welche Liebschaften der X. Y oder Z hatte oder welche Verbrechen oder sonst welche Sachen von denjenigen begangen wurden. Aber 1987? Darum fragt sich der interessierte Leser schon, ob es für diese Geschichte irgendwelche Indizien gibt, denn die im Roman ausgeführte Entwicklung, daß die CIA, bzw. CIA-Angehörige, die ihre eigene verbrecherische Firma gründen, für den Mord an Sankara verantwortlich waren, ist nicht dahergeholt.

Der Roman beginnt in Connecticut 1992, wo Marie Mitchell, die als einzige schwarze Frau unter lauter weißen Männern beim FBI gewesen war, nachts einen Laut hört, sofort Angst um ihre beiden kleinen Kinder hat, professionell reagiert , den Einbrecher täuscht und ihn erschießen kann. Die Nachbarn rufen die Polizei und sie verläßt unmittelbar danach mit ihren zwei Jungen mit falschen Papieren die USA und fliegt zu ihrer Mutter auf die Insel Martinique. Durch Rückblenden wird die Familiengeschichte erzählt, ihre Mutter, eine schwarze Spionin, verheiratet mit einem New Yorker Polizisten, Familiensprache Französisch, verläßt die Familie, zu der noch die ältere Schwester Helene gehört und geht zurück auf auf die karibische französische Insel. Helene, das Wunderkind für Marie, will auch Spionin werden, ist diejenige, die Marie erzieht und wirklich mit Geheimdiensttätigkeit anfängt aber dann plötzlich an einem Verkehrsunfall stirbt. Erneut muß Marie einen existentiellen Verlust im Leben verarbeiten und entschließt sich, daß nun sie Spionin wird.

Doch, doch, es gibt ja noch den Vater, der immer wieder Stabilität, ja Liebe vermittelt, aber eigentlich ist das ein Roman um Frauen, denn Marie wird im Spannungsfeld geschildert, die Beziehung zu ihrer eigenen Mutter einerseits und sie selbst als Mutter ihrer kleinen Kinder. Da wundert man sich nicht, daß Autorin Lauren Wilkinson ihrem Buch die Widmung „Für meine Mutter Linda Perry“ voranstellt. Aber all die Familiendinge sind nur Hintergrund, denn hauptsächlich geht es um Maries beruflichen Leben. Im Brief erklärt sie ihren beiden Kindern, wie schwierig es für sie war, als für echte Spionagetätigkeit motivierte junge Frau nur mit simplen Recherchetätigkeiten abgespeist zu werden und nie, nie, nie wirkliche Geheimdienstarbeit machen zu dürfen. Doch dann, wir sind ja über das Schreiben immer dabei, erhält sie den Auftrag, den vor der UNO sprechenden charismatischen sozialistischen Präsidenten von Burkina Faso, Thomas Sankara, zu becircen. Dies soll als Erpressung gegen diesen verwendet werden.

Sie ist fasziniert von ihm, aber auch froh, daß er die Lage richtig einschätzt und so FBI/CIA keine Fotos schießen können. Auf den Seiten 132 und 133 erfahren dann die Kinder in dem langen Brief und mit ihnen der Leser, welch bedeutender Mann der Vater der Kinder ist. Längst wissen wir ja davon, aber die Autorin foppt uns immer wieder mal, daß Ereignisse schon vorgegeben werden, die aber dann zu einem späteren Zeitpunkt erst eintritt. Denn noch gibt es keine erotische Beziehung zwischen Marie und Sankara, aber eine Beschreibung seiner wichtigsten Reformen in den Jahren nach 1983:

Impfungen der Kinder, der gesamten Bevölkerung, deren Sterblichkeit zuvor immens war erfolgreiche Alphabetisierungskampagne Schutz der Frauen durch Verbot der Vielehe, der Beschneidung etc.

Man sieht, der sozialistische Sankara war eine echte Gefahr für den Kapitalismus und für die USA, die sich als Hort dessen verstanden und verstehen. Und so nimmt auch im Roman alles seinen Gang. Maries FBI-Vorgesetzter, der mit dem Freund ihrer verstorbenen Schwester diese Privatmörderagentur betreibt, heuert Marie an, für einige Wochen nach Ouagadougou zu kommen, Sankara zu verführen, damit er als untreuer Mann seine moralische Integrität verliert....

Doch das ist längst vorgeschoben, denn der Mord am Präsidenten ist beschlossene Sache und wird durchgeführt.

Längst ahnt der Leser und ist einverstanden, daß Marie ein doppeltes Spiel treibt, doch eigentlich kein Spiel, sondern ein echter Mensch wird, der weiß, daß in Gefahr und höchster Not der Mittelweg der Tod wäre. Starke Geschichte, starkes Buch.

P.S. Daß derjenige, der den Mord an Sankara und seinen engsten politischen Vertrauten konkret in Auftrag gab, sein ehemaliger Weggefährte Blaise Compaoré war, ist schon dadurch bekannt geworden, daß dieser den Präsidentenstuhl übernahm und 27 Jahre (!!) herrschte, bis er er 2014 durch eine Verfassungsänderung, weiterhin Präsident bleiben wollte und vom Volkssturm hinweggefegt wurde. Sankara, der bis dahin nur geheim als Held des Volkes war, ist es jetzt offiziell. Daß die USA ein schmutziges Geschäft betrieben auch. Der Roman – eine Fiktion – macht dies überdeutlich.

Fortsetzung folgt


DIE KRIMIBESTENLISTE AUGUST 2020

1(4)
Zoë Beck
Paradise City
Suhrkamp, 280 Seiten, 10 Euro

Deutschland in 100 Jahren. Der Norden unter Wasser, Gesundheits-App KOS
wacht, fast alle sind zufrieden. Nur Liina und Kollegen widerstehen, sie arbeiten
für die „Wahrheitspresse“. Erst recht, als eine Kollegin ermordet wird. Gesund sein
oder frei sein? Brennende Fragen, zum Mitfiebern.

2(-)
Lee Child
Der Bluthund
Aus dem Englischen von Wulf Bergner.
Blanvalet, 448 Seiten, 22 Euro

Wyoming. Beim Umsteigen ersteht Reacher antiquarisch einen Westpoint-Ring,
ahnt Schlimmes für die Besitzerin. Im entlegensten Bergtal stößt der Einzelkämpfer, mit Kumpels diesmal, auf reine Opioide, Fluch und für manche auch Segen.
Reacher ist zarter als sonst, jedenfalls zu den Guten. Echt stark.

3(1)
Guillermo Martínez
Der Fall Alice im Wunderland
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Eichborn, 320 Seiten, 16 Euro

Oxford 1994. Aufruhr in der Lewis-Carroll-Bruderschaft: Doktorandin Kristen
hat einen Hinweis auf die verschwundene Tagebuchseite vom Juni 1863, die Aufschluss über Carrolls wahres Verhältnis zu Alice geben könnte. Ganz heißes Thema. Mordanschläge häufen sich. Mitreißender Metakrimi, großer Gehirnspaß.

4(-)
William Boyle
Eine wahre Freundin
Aus dem Englischen von Andrea Stumpf.
Polar, 364 Seiten, 22 Euro

Brooklyn, Bronx, Monroe. Drei starke Frauen: Rena, fromme Mafioso-Witwe, verteidigt ihre Ehre mit einem Aschenbecher. Lacy, einst berühmte Pornodarstellerin,
nimmt, was sie kriegen kann. Und Renas Enkelin Lucia testet aus, was geht. Superbe Mischung aus Frauensolidarität, Gewalt und Komik.

5(2)
Hideo Yokoyama
50
Aus dem Japanischen von Nora Bartels.
Atrium, 352 Seiten, 22 Euro

Japan, „Präfektur W“. Der angesehene Polizist Kaji hat seine an Alzheimer erkrankte Frau auf deren Bitte getötet und stellt sich zwei Tage später. Polizei, Justiz und
Presse wollen den Geständigen knacken: Was hat er nach dem Mord in Tokios Rotlichtviertel getan? Ergreifendes Drama um Regeln, Anstand, Scham.

6(-)
Max Annas
Morduntersuchungskommission.
Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten, 20 Euro

Gera, Jena 1985. Melchior war Bassist einer Punk-Band. Jetzt liegt der 19-Jährige
tot im Schuppen. Die Ermittler stöbern in unsozialistischem Familiendreck: Kriegsverbrechen, Diebstahl, Prügel. Freundin Julia erzählt von Aufbruch, Musik, Liebe
und Verrat. Hommage an Punk, die Sehnsucht frei zu sein.

7(-)
James Lee Burke
Blues in New Iberia
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger.
Pendragon, 586 Seiten, 22 Euro

New Iberia. Detective Robicheaux liebt Louisiana „wie eine Religion“. Und die wird beschmutzt von einem Serienmörder aus der Mythenfabrik Hollywood: Frauen treiben ans Kreuz genagelt auf dem Meer. Stellen kann das Böse nur, wer den Tod hinter sich gelassen hat. Eine Naturgewalt von einem Roman.

8(-)
Joseph Incardona
One-Way-Ticket ins Paradies
Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow.
Lenos, 310 Seiten, 22 Euro

„Nomad Island“ im Indischen Ozean. Eine Schweizer Mittelklassefamilie, gestresst wie alle, hat den großen Traumurlaub gebucht. All inclusive beginnt mit leisem
Horror, aus Glück wird vollversorgter Gutfühl-Knast, ganz sanft und unnachgiebig. Club Med noir. Horrorfiction für Sesselreisende.

9(-)
Lauren Wilkinson
American Spy
Aus dem Englischen von Antje Althans et al.
Tropen, 366 Seiten, 16 Euro

USA, Burkina Faso. Ein überlebter Mordanschlag zwingt Marie Mitchell, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Die CIA engagierte die ehrgeizige Afroamerikanerin als
Honigfalle für den charismatischen Präsidenten von Burkina Faso. Nicht eingeplant im Kalten Krieg: die Liebe. Obama hat es gern gelesen.

10(-)
Tommie Goerz
Meier
Ars Vivendi, 164 Seiten, 18 Euro

Franken. Zehn Jahre hat Meier unschuldig gesessen für Mord. Jetzt ist er raus, repariert Autos und hebt abgesunkene Scheunen. Schön ist das Leben, schöner die Rache. Im Knast hat er gelernt, wie man Täuscher und Betrüger aufs Kreuz legt. Knochentrocken serviert, die Ballade vom zufriedenen Knacki.


Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane des Monats März 2020 sind allerdings nur noch über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2020 nur noch im Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?

An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur.

Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury | Volker Albers, „Hamburger
Abendblatt“ | Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR | Gunter Blank,
„Rolling Stone“ | Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ | Hanspeter
Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ | Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ | Sonja Hartl, „Zeilenkino“,
„Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ | Hannes Hintermeier, „Frankfurter
Allgemeine Zeitung“ | Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung“ | Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ | Kolja Mensing,
„Deutschlandfunk Kultur“ | Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ | Ulrich
Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR | Frank
Rumpel, SWR | Ingeborg Sperl, „Der Standard“ | Sylvia Staude,
„Frankfurter Rundschau“ | Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Foto:
Cover

Info:
Lauren Wilkinson, American Spy, Tropen Verlag 2020