goldene jahreDeutscher Buchpreis 2020, Zwanzigerliste, Teil 8

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ich hatte noch nie etwas von Arno Camenisch gelesen, Schweizer, wie alt? Muß ich erst recherchieren oder im schlauen Büchlein LESEPROBEN des Börsenvereins nachschauen. Richtig. Auf Seite steht‘s: 1978 und ein fesches Bild von ihm ist auch dabei.

Stimmt, ich hatte ihn mir, sicher wegen des Vornamens Arno, den ich nur von alten Männern kannte, viel älter vorgestellt, denn ich hatte ja - ohne weitere Kenntnis der schreibenden Person, wie ich das immer mache - erst den mit 101 Seiten schmalen, dazu kleinformatigen Roman gelesen, den Roman zu nennen, ich mich scheue, ist es doch eine Suada von zwei Personen, ein unaufhörlicher Dialog, der eigentlich ein Trialog ist, ist doch das Dritte die Erinnerung. Und Suada muß man deshalb sagen, weil man selbst sofort hineingezogen wird in den Sog. Nicht umsonst hieß die römische Göttin der sanften Überredung SUADA! So mußte ich mich ständig miterinnern, denn viele Ereignisse wie die Mondlandung, habe ich ja selber erlebt und darum ist diese Niederschrift sogar ein, ja da fehlt das Wort, Quattrolog wollte ich schreiben, was es nicht gibt, sondern sich als Polylog fortsetzt. Aber Sie wissen schon was ich meine, wenn ich jetzt also lieber vom Quartett spreche, zu dem uns Arno Camenisch verführt.

Und von dem ich zugebe, daß er mich verführen konnte und ich hingerissen bin von seinem Büchlein und von den zwei Alten, Margrit und Rosa-Maria, die seit 1969 ihren Kiosk betreiben mit Zapfsäule und Leuchtzentrale in einem kleinen Dorf in den Schweizer Bergen. Das Buch hat mich glücklich gemacht. Daß es so was noch gibt. Daß da zwei die Welt zugrunde gehen sehen, aber brav täglich ihren Kiosk aufmachen und das Geschehen in der Welt wie im Dorf gleichermaßen kommentieren.

Man kennt solche Suaden vom Aufwachen, wenn man selbst so gut formulieren kann wie nie im richtigen, im wachen Leben oder wo Bild gewordene Gedanken auch noch Sprache produzieren. Man kennt das selbst oder beispielsweise von Thomas Mann, wenn er Lotte aufwachen läßt. Aber hier wird nicht fiktiv geredet, weder im Traum noch im Aufwachen. Hier geht es um ein gegenseitiges Hin und Her zwischen Margrit, die irgendwie die Aktivere, die Vorlaute ist und Rosa-Maria, die ihr nur ein bißchen nachsteht.

Sie müssen sich das so vorstellen, daß wir einmal die direkte Rede als indirekte im Redefluß verbunden mit der Handlungsbeschreibung lesen, wie den Anfang: „Auf zum Mond, sagt die Margrit und dreht den Schalter, die gelbe Leuchtreklame auf dem Dach vom Kiosk geht an. ...Ein Bijou von einer Leuchtreklame ist das, sagt die Margrit, im August 1969 ist sie zum ersten Mal angegangen, und seitdem leuchtet sie über das Tal hinweg, also einer der schönsten Leuchtreklamen im ganzen Kanton ist das, also sep denn scho sicher.“ Viel später auf Seite 38 kommt eine Antwort auf ganz etwas anderes: „Also, genau genommen, ist das ein Stehrolley, sagt die Rosa-Maria, die bleiben stehen, auch wenn man sie losläßt, also wenn du die Straße reinkommst und es grad zimli windet, daß Du den Schal etwas richten müßtest, kannst du...“

Sicher, sicher, manchmal denkt man der Rede wegen auch an Thomas Bernhard. Aber das wäre ganz die falsche Assoziation. Denn hier findet ja ein Austausch, kein Monolog statt. Und was es damit auf sich hat, hat in den Sechziger/Siebziger Jahren ein Wissenschaftler namens Basil Bernstein qualifiziert: als elaborierten und restringierten Code. Daß die Verwendung von Sprache nämlich soziologisch die Unterschicht von der oberen Mittelschicht und Oberschicht unterscheidet. Dabei stellte er fest, daß die Alltagssprache nicht zum Informationsaustausch benutzt werde, sondern zur Übereinstimmung mit dem anderen Sprecher in der Art, wenn jemand an der Haustür zu einem anderen sagt: „Schönes Wetter heute“, derjenige, es ist meist eine diejenige antwortet: „Ja, schönes Wetter und so können die Kinder draußen spielen?“ Es wird also die Übereinstimmung auf gleicher Wissensbasis gesucht, während der elaborierte Code von unterschiedlichem Wissen und einem Erkenntnisgewinn durch eine Gespräch ausgeht.

Das Interessante an GOLDENE JAHRE ist nun, daß die Form der jeweils monologisierenden Gesprächsanteile zwar restringiert sind, aber dennoch durch die Suche nach der Erinnerung, die beide nicht voll teilen, durch gegenseitiges Erzählen, wie es war, der volle Durchblick beider durch 51 Jahre gemeinsamen Wirkens in diesem Dorf in den Schweizer Bergen hergestellt werden soll. Mithin das, was der elaborierte Code will.

Das nur als sprachliche Analyse dessen, was natürlich inhaltlich das Herz wärmt, wenn von den guten alten Zeiten gesprochen wird, die nie gut, auf jeden Fall alt waren, die aber das Quantum Menschlichkeit ausmachten, weil die Menschen noch wahrgenommen und geliebt oder abgelehnt wurden. Die Menschen spielten eine Rolle. Mit ihnen Dinge, die heute verstaubt oder gar nicht mehr gekannt werden, die hier wieder auftauchen und das Leben bereichern dürfen. Wirklich ans Herz gehend. Der Autor ist für mich eine richtige Entdeckung und ausdrücklich ein DANKE an die Jury, daß dieser schmale Band auf die Zwanzigerliste rückte.

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Info:
Arno Camenisch, Goldene Jahre, Verlag Engeler, 2020
ISBN 978-3-906050-36-2


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